Zuerst waren da nur Dünen mit dieser harten räudigen Grasdecke, gefleckt von trockenem Moos mit langen gelben Halmen darin. Der Boden war fest aber elastisch. Im Laufe der Wanderung wurde das Land ebener und schließlich lag in einer flachen Mulde der verlassene Verwaltungstrakt. Vor über fünfzig Jahren hatte Erwin hier eine Stelle als Chemielaborant gefunden. Nach mehreren Verkäufen, Bränden und Umbauten war ein einstöckiger Bau zurückgeblieben, außen und innen in schmucklosem Weiß gestrichen. Der weitläufige leere Seminarraum war mit einer Art Wasser gefüllt, das von leichtblauer Farbe und luftähnlicher Konsistenz war. Schließlich hatte das Land einst kilometertief unter Gletschereis gestanden. Das konnte nicht spurlos vorübergehen; es hatte statt seiner eine schwache Lichtbrechung oder -filterung hinterlassen, die der Helligkeit irritierende Reflexe beimischte.
Die Vorgesetzten damals verstanden nichts von Teerchemie und hatten gegen Erwins kopfschüttelnde stille Einrede das falsche Gerät angeschafft. Die Folge war diese seltsame Füllung, in der wir uns bewegten. Nun, zu seiner Zeit fuhr Erwin noch mit dem Rad über die Feldwege; die Zivilisation war lediglich durch Gleise angeschlossen. Das bläuliche Medium, vielleicht Heimat genannt, störte damals niemanden; es wurde kaum bemerkt. Nur der Widerstand der Räder im Sand, also die ganzen Jahre, der Krieg davor, die Gruben um Breslau herum, das Heidekraut am Wegrand, die feuchten Wolken morgens, vier Kinder und die von den Handwerkern geklauten Dachbretter - nichts hatte ihn aufgehalten, ihn, Erwin und den Gang der Dinge. Ich untersuchte die Fahrradspuren, fuhr vorsichtig mit dem Finger über die feinen Profildrucke, spürte den leichten Sommerregen und die Eisränder um die Pfützen - sechzig Jahre waren doch nichts. Ja, der Sand zwischen den Fingerspitzen, daktylische Eiszeit oder dreißigtausend Jahre auf einen Millimeter gedrückt, auf dem unsere wenigen weitverstreuten und gedrungenen Vorfahren die sturmgetriebenen Herden verfolgten, rauhte die Haut.
Zu dritt, dreißig Jahre später, ein Kollege und sein Teamleiter waren dabei in dem einsamen Bau, während Erwin schon in Rente war, zu dritt besprachen wir die Geschäftsmöglichkeiten. Immerhin ging es um fünfzig Maschinen und die Sache war auszuloten. Im Vordergrund stand die Frage der Liefertermine, von der unsere Zusagen abhingen. Der Raum fühlte sich an wie aus Schnee geschnitten, wie der Findling einer außerirdischen Zivilisation. Aber auch die Zeit war nun vorbei. Der Geist des Labors hing noch in den Ziegelwänden und dem gescheuerten Holz und diffundierte ständig in den Raum. Er bestimmte, wie? irgendwie! unser Denken. Ich erzählte meinem Team, der Chef wäre katholisch gewesen und hatte immer wieder eine Ausrede gewußt, aber Erwin als schlesisch-protestantischer Flüchtling hatte dreimal angefragt und dann im dritten Jahr die Stelle bekommen. Er erschien jetzt auch selbst, etwas durchscheinend, aber sachlich, zeigte hinter sich, “...da war der Lehrlingsraum, da die Toilette - und hier...”, vor uns, “...die Tische mit den Brennern.” Jetzt vermischten sich die Zeiten und die beiden Geschichten. Und während er sprach, tauchten die alten Möbel geisterhaft auf und die Leute erschienen, die ihn, wenn auch ohne Gesicht, um die Prämie für den Verbesserungsvorschlag gebracht hatten. Jeder von uns dachte über die Vergangenheit nach; darauf einigten wir uns, beschlossen so und schwammen langsam durchs Blaue hinaus.
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Ich befand mich sehr hoch über dem Erdboden, vielleicht 4 normale Stockwerke. Die gefühlte Höhe war weit größer als die daraus resultierenden zwölf oder fünfzehn Meter, denn mein Haus war ein Mehretagenbett. Mühselig hatte ich es auf einem angelehnten Holzgerüst erklettert. Nebelhafte Begleiter machten gelegentlich warnende und kommentierende Bemerkungen, ohne daß ich darauf einging. Ich machte es mir oben auf der Matratze bequem; sie hatte eine weiche Oberfläche und einen warmen dunkelbraunen Bezug. Beides machte den Bau, der schon ein wenig schwankte, noch fragiler, so daß ich besorgt über die Kante nach unten blickte. Das war der Moment, an dem ich ins Rutschen kam. Die Tiefe sog mich hinab, das Entsetzen half nicht und, obwohl ich mich noch kurz im Bezug festkrallen konnte, kam der Sturz.
Entgegen aller Vernunft war ich unten heil angekommen. Die Ratschläge jener Begleiter waren mir nun gleichgültiger denn je. Die Angst fiel von mir ab und ich begann einen ausholenden Tanz des Triumphes. Dabei hatte ich eine Art doppelt oder dreifach mannshohen Balken im Arm, aber nicht so hart wie Holz, sondern etwas nachgebend wie ein ledergestopftes Sportgerät. Diesen schwenkte und drehte ich majestätisch, warf ihn hoch und stellte ihn auf, um dann meinerseits wie der Sitz eines Kettenkarussells an ihm herumzuschleudern. Dann wieder hielt ich ihn waagerecht auf den ausgestreckten Armen und schritt wie ein siegender Tragöde voran.
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In dem honigfarbenen Nachmittag umstanden uns hohe Fassaden, hinter denen immer höhere wuchsen. Vorn waren es schöne Wohnhäuser, dahinter riesige Bahnhofshallen. In dem kleinen Geviert in der Mitte war ein Baumgerüst, ja, aus Ästen und Brettern errichtet worden oder gewachsen. In Anzug und Aktentasche hatte ich es erstiegen. Nach Erledigung von Aufgaben, die ich nicht ganz durchschaut hatte, stieg ich wieder herunter und verbrachte einige Zeit an unbekanntem Ort. In einer dieser Wohnungen, Zebaoth, hatte ich sie mehrfach besucht und wir hatten bei wachsender Anziehung gut miteinander gesprochen. Sie hatte so ein Stufenbett und saß oben; mit einer undeutlichen Handbewegung wies sie neben sich. Da ich wieder alles von meinem Verhalten abhängig glaubte, entging mir, daß sie nun meine Nähe suchte und ich verließ sie, ohne daß wir taten was wir fühlten. Zurückgekehrt ins Bewußtsein, merkte ich, daß mir die Tasche fehlte. Suchend klimmte und stieg ich wieder auf den Gerüstbaum, Stockwerk um Stockwerk. Jetzt hatten sich unten Leute angesammelt und auch neben und über mir stiegen viele mit. Sie schienen mir bei der Suche zu helfen, aber es konnte auch sein und lag nahe, daß die meisten nur sehen wollten, wie ich meinen Verlust verarbeitete.
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Ich hatte das Geld eingesteckt. War aber unsicher, will sagen es war mir nicht wohl dabei. Man mußte nämlich in diesen Kreisen, wo Hotte im Paradies verkehrte, das Geld nicht achten; ja, man mußte es ansehen wie bedrucktes Papier, Altpapier. Das heißt, ich sollte eigentlich meine Taschen leeren, konnte mich aber nicht entschließen. Unsere Umgebung war eine Baustelle von freundlichem Charakter. Freundlich, weil vorwiegend mit rohem hellem Holz hantiert wurde. Ich stieg über Balken und Bretter, wo die Jungens ein Haus für ihre seltsame, nun ja, leicht kriminelle Gemeinschaft errichteten und drückte meine Zufriedenheit über den Baufortschritt aus. Einige Monate später waren die Häuser und Häuschen fertig, nur das Baumaterial lag immer noch herum, in dem wir, das Gespräch fortsetzend, wie die Störche stiegen.
Vom unteren Teil der Steilküste ging das Land meiner Kindheit aus, dunkel aber nicht düster. Auch nicht harmlos, nein, es hatte seine Untiefen, war aber kein Land des Grauens. Besagte Untiefen lagen schon unter Wasser und schimmerten bläulich wie beim Elektroschweißen. In dem sehr klaren Wasser gab es Lichterscheinungen, die einem Teilchenfluß aus den tiefsten Tiefen des Weltraumes entstammten. Er kündete von grauenhaften energetischen Vorgängen, die imstande waren unsere Erde mit all ihren ewigen, gewaltigen Gebirgen zu zerreißen, als wäre sie ein alter Tischtennisball aus Zelluloid. Gelegentlich schweiften unsere Blicke darüber hin, ohne sich aber festzuheften. Es ging um die Frau, deren Verkauf eigentlich eine Preisfrage sein sollte; mein Partner behandelte sie jedenfalls rein sachlich. Ich dagegen konnte meine Aufregung kaum verbergen. Jede Kurve ihres Schattenrisses zog meine Augen an sich. Ich mußte öfter nach unten über die Klippen in das Dunkel mit den bläulichen Zonen sehen, um mich etwas zu beruhigen.
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In dem kleinen Plüschkino waren nicht nur die Stühle, sondern auch die Wände mit dunkelrotem Stoff bespannt. Eine Platzanweiserin, die aussah wie eine Stewardess führte mich an der Hand. Obwohl wir die einzigen Menschen im Saal waren, ging sie nicht auf den nächsten Sitz zu, sondern zog mich die langen Stufen hinunter, dann scharf links an der kleinen Rampe entlang und wieder hinauf, so, als wäre nur ein einziger entlegener Platz noch frei. Allerdings war plötzlich für wenige Augenblicke - waren es zwei Sekunden? - der ganze Raum mit buntem lärmenden Leben erfüllt. Kinder riefen, eine Klappstulle (kein Popcorn) flog über die Köpfe, Halbstarke mit schrägen Mützen rauchten, Mädchen sangen, die frühen sechziger Jahre... und dann, wie abgehackt wieder die Stille und Leere von davor. Ich fragte die Stewardess, was das sollte, aber sie rief: wie bitte? Na, der Krach, die ganzen Leute eben! Ja, rief sie, wir sind ausverkauft; hier, das ist der letzte Platz...
Als ich saß, war der Raum wieder voll und alles lärmte wie zuvor. Die Stewardeß winkte mir zu, aber ich begriff nicht. Da hatte sie plötzlich die Ziehharmonika des Clowns in den Händen und begann zu spielen. Ihr Mund war sehr rot geworden und der hohe Hut wiegte sich schön. Alle standen auf und folgten ihr die Treppen hinab auf die Leinwand zu. Offenbar war es kein Problem, diese zu durchqueren, denn die Clownsfrau war schon hinter ihr verschwunden und die Hälfte des Publikums ebenfalls. Nach einem kurzen Anstieg führte ein riesiges Stufengerüst die Leute abwärts in ein weites kahles Abendland. Die Ebene hatte keine Grenzen und war mit kühlem grauem weichen Staub bedeckt. Nur, als ich mich endlich erhob, war ich wieder allein in der Stille. Nicht in der Vollkommenen, denn deutlich hörte ich die Ziehharmonika hinter der Leinwand. Es war eine kleine Tanzmelodie, die man nicht satt wurde, weil sie einen Hauch von Trauer variierte. Sie klang und lockte, aber die Rampe, der Orchestergraben und die Leinwand boten keinen Durchgang mehr.
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Damals war die Wohnung so dunkel, hatte einen durchgelaufenen Teppich und schwere braune Möbel. Besonders der lange Flur nach hinten war völlig lichtlos, die rote Stofflampe in seiner Mitte immer zu schwach. Hier war er das letzte Mal entlanggekrückt und dann im großen Zimmer krachend zusammengestürzt. Der herbeigerufene Notarzt konnte, wie es immer heißt, nur noch den Tod feststellen. Schwer und groß und gewölbt lag er in der Düsternis und die Herren des Institutes wollten sich allein an ihm zu schaffen machen. Aber meine Mutter ließ sich nicht vertreiben, schickte nur uns hinaus.
Dann kamen die Wanderjahre. Ich umrundete auf der S-Bahn den Ring und brachte von da das Bild riesiger abendsonnengeröteter Backsteinfassaden mit. Oft stand mir ein Mädchen gegenüber im Türbereich. Damals glaubte ich noch, man müßte etwas Kluges, Humorvolles sagen, um Kontakt zu bekommen. Natürlich war ich auch nach Stunden noch unfähig, das Schweigen zu brechen.
Erst als das eigene Ende in den Bereich des Möglichen rückte, konnte ich mich etwas aus der Selbstfesselung befreien. Ich erreichte einen gewissen Grad von Zufriedenheit, der sich auch in der verwandelten Wohnung spiegelte. Sagen wir, der Zwang war nicht mehr so stark, der Erfolgsdruck. Jetzt waren die Zimmer groß und weit und nur wenige, aber bequeme Möbel standen an den Wänden. Die Vergangenheit zeigte sich unten als ein Konglomerat aus langen, kreuz und quergestellten Bahnhofshallen und vielen Schienen. Vielleicht waren die Gleise da ein wenig zu grau, aber ich entsann mich jener anderen, die halb im sommerlichen Kiesbett versanken. Sie führten an bunten Wiesen entlang, über steinerne Bogenreihen und ließen ferne Hügelketten blauen. An den Schwellen wuchs zartes Grün, manchmal mit kleinen Blüten durchsetzt. Es war so still, daß die Vermutung aufkam, die Verbindungen zum Landesnetz wären gekappt worden. Damals.
Ich ging durch die schön gewordene Wohnung. Von draußen warf eine jener warmen Ziegelwände ihr rötliches Licht herein. Niemand war da, der mich beunruhigen konnte; für niemanden mußte ich mir etwas ausdenken.
Dann, dachte ich, mußt du dich eben hier einrichten. Mit der Hand strich ich langsam über die dunkle altgewordene Samtbespannung der Wände. Ließ mich dann in einen der Klappsessel hinab, einen aufgerissenen, dann daneben in den heilen, aber zu weichen. Ich wartete. Die Ziehharmonika war verklungen. Die Leinwand dunkelte. Der Raum schien auf den endgültigen Stillstand zuzutreiben. So konnte man es noch ein / zwei Jahrhunderte aushalten. Aber ganz schwach, ganz allmählich bewegten sich Farbwolken auf der Leinwand - vielleicht nur das Rauschen meiner Netzhaut - bewegten sich auf ihr durcheinander wie vergangenes Nordlicht. Und in ihnen erschienen, wie üblich in der Todesstunde - die sich diesmal hinzog - die Startrampe von Achteinhalb, Gesichter von Hiroshima, den Cousins, den Kindern des Olymp... von allen, die hier am Steinplatz ihre Spuren und Marken, ihren Hauch und ihr Leben im räudigen Plüsch hinterlassen hatten.