Masurenreise im September 1992  

 

 

Die Abfahrt war im letzten Moment schriftlich noch einmal verschoben worden. Sie sollte nun Montagnacht den 15.9. um 1.00 Uhr, also eigentlich Dienstag früh, vom Busbahnhof Langenhagen erfolgen. Ein paar Gestalten mit Koffern stehen schon da, als wir leicht frierend unser Taxi entladen. Wir positionieren das Gepäck etwas seitlich, stehen eine Weile herum und gehen dann in dem Nachtwind die Bussteige langsam auf und ab. Noch überwiegen Spannung und Erwartung die Müdigkeit. Halblaut fragen wir einige der Wartenden, ob sie auch wegen der Polenreise hier stünden. Man murmelt Antwort, nicht unfreundlich, ist aber um die Zeit nicht geneigt, längere Gespräche zu führen. So ist nur das Knirschen des Sandes zu hören, meist übertönt von dem lebhaften Nachtverkehr auf der Ausfallstraße und der unfernen Autobahn. Über uns sternlose Schwärze.

 

Gespannt und etwas besorgt bin ich wegen der Ungewißheit über die Stimmung gegenüber den deutschen Touristen. Zum einen ist die Randale unserer Neo's noch in frischer Erinnerung, zum andern wurden wir öfter vor Diebstahl und Einbruch gewarnt. Sage aber nichts zu Isi, denkt vielleicht dasselbe.

 

Mit der Zeit ist der Bussteig schwarz vor Menschen geworden; schwarz von Schweigenden. Ein Altersheim, alle von der Heino-Generation. Aber rüstig. Rüstige Siedler. Ein kleiner Weißhaariger mit leicht geschrumptem Apfelgesicht fährt nach Ostdeutschland; die neuen Länder sind für ihn Mitteldeutschland.

 

Nach und nach erscheinen sechs Busse. Beim ersten sind wir noch aufgeregt, laufen hin, um die Nummer abzulesen. Mit der Zeit lernen wir Geduld; es braucht immer eine gute Viertelstunde, die Busse mit Koffern und Reisenden zu füllen. Unserer mit der Nummer 2 ist der letzte, so daß wir gegen eins davonkommen.

 

Luxus sind die Sitze nur im Prospekt. Sie stehen so dicht aneinander, daß man sich keinesfalls ausstrecken kann. Isi hat ihr Kissen mit und ich drücke und schiebe den Mantel zwischen Fenster, Kopf und Schulter; wälze mich, bis ich eine schräge Halb-Liegelage einnehme. Eventuell einige Takte so schlafen. Die Profis haben U-förmige aufblasbare Kissen, die sie hinter die Köpfe legen können.

 

Jedesmal wenn ich die Augen öffne, sehe ich die grünlichen Nachtbeleuchtung über den Gepäckhaltern und vorn die dunkelrote Zeitangabe glühen. Nachdem wir die Stadt verlassen haben, ziehen draußen gelegentlich einige Lichter vorbei. Blaue Wegweiser leuchten, Lehrte, Helligkeit, dann wieder durchs Dunkel. Anderthalbtausend Kilometer vor uns. Die Nacht steht dicht am Fenster. Noch auf der Erde? Ein träges Licht genügt, wandert minutenlang am Horizont entlang - kein Stern. Zwei Uhr eins. Nach einer Ewigkeit: Zwei Uhr sieben. Gott, wann soll das enden? Dann plötzlich nach einem Augenaufschlag: Drei Uhr fünf!

 

Pause. Eine Raststätte vollgeparkt mit endlosen Reihen von LKWs. Zur Toilette, manche mußten rauchen; die Oma mit den scharfen Zügen eine nach der andern. Das Restaurant ist voll und voll schlechter Luft. Ist es die Tages- nein die Nachtzeit, oder sind es die übernächtigten Gesichter - trotz freundlicher Möblierung und sauberer Theken scheint sie sich in Auflösung zu befinden. Manche unserer Reisenden holen sich einen Kaffee, manche ein richtiges Essen. Andere stehen ratlos zwischen den vollbesetzten Tischen. Warteraum vorm Ersten Kreis - lebt von der Hoffnung. Ich lasse es bei einem Apfel bewenden, auch, um nicht nur draußen herumzuschleichen. Die Fahrzeuge stehen so dicht, daß nur tiefe enge Sappen zwischen ihnen bleiben. Die Fahrer haben nämlich die Busse verschlossen; sie müssen ihre Pausen einhalten, wenigstens hier. Kein Entrinnen.

 

Isi sehe ich mal draußen, mal an der Damentoilette, dann wieder an einem Tisch sitzen. Wie Planeten treiben wir durch die Menge zusammen und auseinander. Ich setze mich zu ihr und frage, ob sie einen Kaffee möchte. Nein, im Moment lieber gar nichts. "Ich vertret' mir noch etwas die Beine," sage ich und schlendre raus, unschlüssig. Vorn, jenseits der Lastzüge, wuchten mit hundertsechzig die Autos vorbei; hinter uns steht eine schwarze Waldwand.

 

Später gleitet unser Schiff nicht mehr, sondern stampft. Ich sehe Schilder, auf denen Rostock steht. Wir fahren Ost-Autobahn, und zwar die Nordumgehung nach Stettin. Wahrscheinlich ist Frankfurt wieder überlastet. Ferne Lichter ziehen vorbei. Der Horizont vor uns ist plötzlich in helles Blaulicht getaucht. Einer schiebt sich den Erdrand hoch und stöhnt. Bereits auf der Brust liegend, stemmt er mit den Armen, um die Beine nachzuziehen. Sein riesiger glimmender Kopf, kein Gewicht, liegt fast auf meinem Deckbett, als er fragt: "Bin ich angekommen?" Ich möchte dazu nichts sagen und ziehe die Decke an mein Kinn. Ich habe seine Gedanken. Ein Androide, sein Name ist ICH. Irgendwann, vielleicht pränatal, ist er sich seiner. Selbst. Bewußt. Geworden. Nur über sein Geziefer. Kam das Sein an sein Selbst. Ja schon, aber jetzt lieber schlafen. Er sagt: "Dann mache ich das Licht aus." Findet irgendwo einen Dimmer und dreht das Himmelslicht herunter, bis alles schwarz ist. Sein Kopf glüht noch im fernen Infrarot. Zur Ruhe gekommen. Warte nur balde. Zwischendurch halb aufgewacht, blinzelnd. Da sehe ich ein Schild SCZECZIN.

 

Die Fahrt wird holpriger und verlangsamt sich allmählich. Wir fahren in einen dieser weitläufigen Blechdachbahnhöfe ein. Der Halt bringt eine lange Stille. Nichts scheint sich in den graugrünen Buden zu rühren. "Wie damals an der DDR-Grenze," murmelt der große Alte hinter mir. "Nicht daß sie uns wieder für Kolonisten halten," sage ich, halb umgedreht. "Hier sind bloß ein paar heimwehkranke Flüchtlinge," meint er müde und versöhnlich.

 

Das Interesse des Grenzers richtet sich auf ganz andere Dinge. Am wenigsten Bock hat er darauf, um halb fünf Uhr morgens etliche Pässe abzustempeln. Aber er macht es mit Haltung - mit halbwegs amtlichem Gesichtsausdruck.

 

Auf den langen Oderbrücken wäre ich fast wieder eingeschlafen, hätte der Fahrer nicht durch den Lautsprecher verkünden müssen, daß wir dieselben gerade überquerten. Die Reifen trommeln dumpf den Fugenrhythmus dadamm dadammmm. Die Straßen werden am Stadtrand uneben und unsere Köpfe rollen an den Sitzlehnen hin und her. Das Dunkel gibt zögernd die ersten Baumkronen frei. Sie ziehen am Himmel auf und gehen hinten unter. Bei der Umgehung von Swinemünde fahren wir dicht an trostlos ergrauten Plattenbauten entlang. Bilder eines unvorstellbaren Zerfalls. Die Funktion ist überall noch erhalten, will sagen, alles bewohnt in den Bauzombies. Jetzt werden die Straßen eng und enger. Wir hätten in die Fenster der Anlieger greifen können und die mußten meinen, wir führen durch ihre Schlafzimmer. Aber niemand protestierte. Menschenleere Nacht.

 

Nicht überall. Vereinzelt stehen Wartende an Haltestellen. Kioske mit Neonröhren und gesägten Wandregalen sind hell und kalt erleuchtet. Die tristen Waren stehen wie im Lager aufgebaut. Unerfindlich, warum die Scheiben vergittert sind. In Zeitlupe geht eine Frau das Treppchen hinauf und greift nach der Türklinke. Wollte sie ihre Zeitung holen? Vorbei. Für mich Exotik, für sie der Alltag. Ewig die kleine Treppe, die lagerhallenmäßigen Regale, das Winterlicht im Kiosk, die anheimelnde graue Fassade mit den schwarzen Flecken zu Haus und die verkommenen Fenster - innen vielleicht gehäkelte Deckchen und Blumen auf dem Fernseher. Wiedergängerin im Schattenreich. Jetzt alles in Frage gestellt.

 

Stelle mir vor, ich hätte so meine Jahrzehnte verbracht. Vielleicht mal ne neue Antenne, "Schissl gekauft", wie Josef später verrät, nach langem Sparen. Und dann komme ich in eine Welt mit glitzernden Kaufparadiesen und Leuten, die ein Jahresgehalt im Portemonnaie herumtragen, nicht wissend, daß andere dort um ihre Dose Bohnensuppe kämpfen wie ich... zwar nicht der gestirnte Himmel über mir, aber das Gesetz in mir, meine das, was den Laden ohne Polizei am Laufen hält, wäre verpufft wie der Glaube an Orden und Häkeldeckchen.

 

"Die Flachdächer - daran erkenn' Sie die polnischen Häuser; mit Schindeln und Walm haben früher die Deutschen gebaut," sagt Herr Riese. Wir? In Sicherheit. Die Vorstadt besteht aus endlosen Reihen von zweistöckigen morgengrauen Steinwürfeln, teilweise unverputzt. Haben offenbar genausoviel Häuslebauer wie wir. Nur natürlicher: Gartenzwerge sind im Kraut nicht zu sehen. Stecken wohl zu tief drin.

 

Döse wieder einige Meilen vor mich hin. Dann dichter Nebelwald. Wir überholen nicht nur die einheimischen Busse; fahren bestimmt 120 und ziehen an manchen PKW vorbei. Nach längerem Anstieg richtiger pommerscher Kiefernwald. So hohe Stämme, daß es unten wieder hell wird. Schöner grüner Waldboden, darin vereinzelt knie- und hüfthohe Wacholdersträucher. Dickes Moos und dünne hohe Grashalme. Weiß noch, als wir nach Quisbernow evakuiert waren, Kreis Groß-Rambin, hatte ich oft darin gelegen. Im Himmel versunken. Die Kiefernkronen mit leisem Sausen durchs Blau gezogen. Ferne Chöre. Das vorsichtige Knarren der Stämme: wie die Tür zum Traumreich aufgeht. Auch vorbei.

 

"Guck dir mal die Kartoffeln an, vollkommen verkrautet - polnische Wirtschaft," sagt mein Hintermann. Die kleinen Felder sehen tatsächlich aus, wie von der Natur bestellt. Allerdings kommen kurz danach Große, die absolut keimfrei sind, wie bei uns. "Na bitte, es geht doch auch so!" korrigiert Riese, mehr zu seinem Sohn gewandt.

 

Die Häßlichkeit der Mietkästen gewinnt durch das Tageslicht noch einen Zug von Brutalität. Wo ehemals Farbe war, wird der Zerfall noch deutlicher. Wie Stacheln nach der Räude stehen die schiefen Antennenwälder durcheinander. Trotzdem, alte Gebäude sind immer noch einen Hauch wohnlicher als die bei uns in der Täterä. Wahrscheinlich, weil man sich hier einrichten wollte. Die Täterä gehörte Niemandem. Diedaunten bei Honey wollten immer nur raus und Diedaoben hatten kein reines Gewissen. Alles Unbehauste in der DDR.

 

Das schlimmste, was mir vorgekommen ist, war allerdings ein Foto von Pripjat bei Tschernobyl. Nur riesige schwarze Kästen in aufgewühlter Erde. Keine Straße, kein Baum, kein Laden, keine Laterne, geschweige denn eine Kneipe - Infrastruktur Null. Wir erfahren nämlich - um einmal vorzugreifen - im Lauf der Reise, daß Millionen von Russen, Weißrussen und Balten von Osten in das Wohlstandsland Polen drängen.

 

 

Am frühen Nachmittag sind wir in Bydgosz oder Bromberg. Dort wird übernachtet. Abendbrot. Sechs Busse, jeder Bus nimmt zwei Tischreihen ein. An den Tischen sitzt die gebildete Einfalt. Besonders unser kleiner weißhaariger Beamter. Er hat viel Bildungsurlaub gemacht. Normalerweise gibts nur 6 Tage, er hat aber 12 bekommen, weil es die Adenauerstiftung oder weil er Beamter war. Will mit Angelzeug an die Seen, es hinterher verschenken. Man muß die Deutschen unterstützen, die die ganze Zeit hier ausgehalten haben.

 

Ein langes, sicheres, leidensfreies Leben hat ihm tiefe, echte Selbstgefälligkeit beschert. Isi meint zu ihm, der Krieg ist verloren und vorbei und gucken Sie sich doch mal die vielen Häuser und Menschen hier an, das können Sie nicht zurückdrehen. Warten Sie ab, sagt er. Echt der Typ, der die Züge mit den Kreidesternen immer pünktlich abgefertigt hätte. Und hätte dabei sein Nachbar durch die Gitter geguckt, hätte er ihm sicher die Hälfte von seinem Frühstücksbrot abgegeben.

 

Anerkennung fürs Essen; Polen hätten guten Geschmack, garnicht zugetraut - auch ihre guten Seiten. Aber wie sie damals gehaust hätten...

Jetzt wirds Isi zuviel. Sagt, wie die SS damals in Warschau gehaust hat. Den ganzen Lehrkörper der Universität rausgeholt, 145 Mann an die Wand gestellt und niedergeschossen. Er darauf, sein Onkel wäre auch aus Graudenz geholt worden, hätte noch ein Flugzeug gekriegt, mit Schlauch in der Nase und im Hals, wie furchtbar das gewesen wäre. Und er ist als Kind auf die Flucht genommen worden, mußte sein ganzes Spielzeug zurücklassen, alle Soldaten und so. Versuche es mit Satire und sage, Adolf mußte auch alles zurücklassen, Panzer, Kanonen, das ganze Gerät. Nichts zu machen, er meint nur, hätte er nicht solche Fehler machen dürfen.

 

Am späten Nachmittag können wir in Bromberg herumspazieren. In der Nähe des Hotels sind noch Zeilen von alten Bürgerhäusern, ein wenig verkommen, aber in voller Funktion. Die Plattenbauten sehen jedenfalls älter aus. Starker, beizend riechender Verkehr und rumpelnde Straßenbahnen. Am Flußufer sind Streifen von verwunschenen Parks. Dunkel und feucht, aber Autowracks und Werkhöfe immer in der Nähe. Auf den Bänken sitzen nur Männer, viele mit roten, zerstörten Gesichtern. Kein Wiedergruß, gucken nur, noch ohne Aggressionen. "Vielleicht finden wir irgendwo ein Café," meint Isi.

 

Es gibt auch so eine Art Flanierzeile oder Hauptstraße. Sie beginnt am Fluß und führt fast einen Kilometer lang in Richtung auf die Plattentektonik auswärts. Sehr belebt, nicht sehr breit, Fußgänger drängen sich fast, Straßenbahnen kommen dicht und Autos kreuzen mehr über die vielen Querstraßen. Alles hängt zwischen schnellem, provisorischem Aufbau und langgehegtem Verfall. Uralter Putz auf Bürgerhäusern. Sieht immer aus, als könnter Geschichten erzählen. Aber Cafés? Erstmal wird Handfestes konsumiert, wenns Geld reicht - sitzen kann man zu Hause.

 

Doch, ziemlich weit hinten, erhebt sich ein riesiges sozialistisches Kultgebäude, inzwischen Kaufhaus und gegenüber ist tatsächlich eine Kawiernia, mehr ne Cocabar. Innen kahl geweißt, Kaffeemaschine, Mikrowelle, Fertigeis - richtig modern eingerichtet, aber auf dunkelbraunem Resopal. Wir hatten gedacht, sowas zu finden wie ein altes wiener Kaffeehaus, oder wenigstens ne Miniausgabe davon, na schön, trinken kann man hier auch. Isi gefällts sogar. Sagt sie. Ich geb einen aus. Selbstbedienung. Die Frau hinter der Theke hat schon westliche Pomadigkeit gelernt, nur gemildert durch polnische Haltung und, natürlich, die Dienstbarkeit der östlichen Weiber gegen den Mann. Nie geschmacklos aufgemacht, sondern immer mit Eleganz. Sind vollkommen gleichberechtigt, besonders im Straßenbau. Aber spätestens mit dem Brautschleier geht die Emanzipation den Bach runter.

 

Abends nochmal mit Isi an die Hoteltheke, einen Schlaftrunk nehmen. Auf dem Regal läuft schon der Fernseher. RTL Rateschau, unser netter Quizmaster, lebt von seiner Persönlickeit. Ausschließlich. Mit Bedacht nicht in polnischer Synchronisation. Wie kommt er hierher? Richtig, überall die Schüsseln. Nach und nach sammelt sich der ganze Businhalt in der Bar. Keeper ist ein junger Pole mit blonder Felix-Krull-Tolle und schönem buntem Hemd. Isi meint, so waren die Polen auch in ihrer Erinnerung. Immer irgendwas Flottes an, immer formvollendet und von einer gewissen höflichen Duldsamkeit.

 

Obwohl bald auch die paar umstehenden Tische besetzt sind, sitzt an dem gegenüberliegenden eine hübsche Polin allein. Lächelt herüber. Wie kommts, sieht doch, daß ich angeregt mit meiner Frau rede? Stellt sich dann wieder zu zwei Männern an die Theke und redet mit denen. Wie mit Vorgesetzten. Auf ein Nicken nimmt sie wieder Platz, allein. Aha. Süßes schüchternes Hurenlächeln, wieder zu mir. Ein dritter kommt, redet kurz mit ihr und stellt sich dann zu den Zweien an die Theke. Er hat einen runden dicken Kopf, Uniform und fixiert mich. Gehe darauf nicht ein, sondern suche den Blick des Mädchens. Ernährt den ganzen Clan. Trotzdem keine Hochachtung der Verwandtschaft. Ich lächle nicht mehr zurück, sondern gucke sie nachdenklich an. Jetzt macht sie auch auf Ernst. Leichte Trauer hinter den Wimpern. Da beendet ein Vierter das Gekasper. Großer Mann mit Bauch und Stirnglatze, feinste helle Velourlederjacke, Handelsriese, redet kurz auf polnisch mit den Männern, ohne die Frau anzugucken. Dann ab und sie hinterher.

 

Bei der Ausfahrt aus Bromberg ziehen sich den ganzen Horizont lang die Wohndolomiten mit Menschenintensivhaltung. Haben früher produziert, daß die Heide rauchte. Mehr Rauch als Produkte. Sollen jetzt nur noch Chips und schicke Autos bauen, ohne Gift und Gas, alles für den Weltmarkt. Dosensuppe, Waschpulver, Knäckebrot, Blümchenpißpafüm und Babypapp kriegen sie derweil von uns; steht schon alles in den Schaufenstern. Arbeitsämter haben Personalprobleme.

 

Dann das Ganze nochmal zurück. Ein Bus ist über Nacht aufgebrochen worden, braucht Hilfe. Die Koffer waren nicht mehr drin; zur Strafe wurde Sand in den Getriebeölstutzen gefüllt.

 

Wir nähern uns Thorn. Die Reiseleiterin fragt uns, wie man Kinder fragt, in bestem Schuldeutsch: "Was ist dort gekannt?" "Ja, Kopernikus..." mit lustigen Brüchen und Klirren in der Stimme. Keine nationale Frage. Oder nur offengelassen für Touristen.

 

Dann die Katastrophe vom letzten Jahr, die Waldbrände, 9000 Hektar. Damals kaum von gehört. Doch, auch in Mecklenburg, Südfrankreich, um Athen herum, zwischen Moskau und Petersburg, Sibirien riesige Flächen, Kanada. Die ganze Nordhalbkugel hat letztes Jahr gequalmt. Dazu Verkehr, Kraftwerke, Hausbrand... schneller gehts nun wirklich nicht. Also doch auf dem richtigen Weg. Nochmal zu den schönsten Ecken, nochmal Masuren, bevors vergilbt.

 

Sie erzählt weiter von den vielen Russen, die hier reinkommen. Mit 50 Mark Monatseinkommen ins Wohlstandsland. Starke Kriminalität, besonders in Warschau, wo schon in der Straßenbahn bewaffnete Raubüberfälle laufen. Russen werden als Besatzungsmacht und Vertreiber dargestellt. Offiziell sinds aber die Deutschen, die den Bösewicht hergeben. Egal, wann mans Fernsehen anmacht, immer laufen deutsche Kriegsgreuel, flimmernde alte Schwarzweißfilme, Stahlhelme, Erschießungen, Abtransporte in Viehwagen. Eingeblendet in Berichte von brennenden Asylantenheimen, kaiserlichen Kriegsfahnen und randalierenden Glatzköpfen.

 

Um Thorn die Wohngebirge und Fabriken. Teilweise still wie ausgebombt, andere wild in allen Farben qualmend. Ein Schornstein raucht besonders schwarz, aus einer Popcornfabrik. Herr Riese hinter mir kommentiert: "Da fliegen die Angebrannten raus."

 

Die Reiseleiterin erzählt weiter: "Ja und alles ist auch... auch teuer, da ham sie Kredite aufgenommen und auf Prozent von achtunvierzig... achtunvierzig Prozent ja! Die Zinsen ja. Also das war furchbar, alles verkehrt, also wirklich ja. Und die Bauern die haben so große Schulden jetzt. Und jaa die haben gestreikt sogar. Ja ab und zu heren sie doch ein bischen ja, also die Bauern unzufrieden. Und dann haben sie weniger angebaut. Und dann kein Regen, so über 60 Tage, ausgetrocknet und ja... da fehlt in diesem Jahr fast 40 Prozent von Getreide, kenn sie sich vorstellen? Schon jetz is Brott sehr teuer. In letzten Tage war auch son bischen komisch mit Zucker. Es hat Zucker bis jetz 6700 gekostet. Ja ein Kilo. Un dann ich weiß nicht haben die Leute gedacht, es wird sehr teuer undsoweiter undsoweiter. Ham sie aufeinmal alles Zucker weggekauft..."

 

An einem Feld steht sogar etwas mit "Bio..". Herr Riese, vertraut mit landwirtschaftlichen Gewohnheiten im Westen, kommentiert bereits: "Am Tag isses Bio und abends düngt er nach." Als ein Wagen mit Gänsen uns entgegenkommt: "Die habens gut, kommen in den Westen." Wieso fallen mir die Ossis ein?

 

Der letzte Halt vor Lötzen ist Allenstein. Die schönsten Toiletten des Landes, wirklich gepflegt und ausführlich benutzt. Ein langgestreckter Hotelbau im Rasen, hinten ein See, von Wald umgeben. Isi wird ganz aufgeregt. Masuren beginnt. Die Straßen werden schmaler, laufen in sanften Wellen. Panoramen drehn sich vorbei, immer aus denselben Elementen: Wald, sanfte Hügel und Seen mit langen Schilfgürteln und mit immer neuen Seen verbunden.

 

Lötzen bekommen wir gar nicht zu sehen. Der Bus fährt an der Peripherie im Waldgebiet hin und her. Sucht die Einfahrt in die Ferienhauskolonie. Pförtnerkasten, große Schranke, Auskunftei wie ein Kulturhaus, Gardinen, Theken, drei gelangweilte Frauen. Letzte Kofferschlepperei auf schmalen, asphaltierten Wegen in zweistöckige, hölzerne Pfefferkuchenhäuser zwischen hohen Bäumen. Jedes hat acht Wohnungen in zwei Ebenen. Ein wenig Jugendherbergscharakter. Im Glaskasten an der Wand ist ein riesiger brüchiger Feuerwehrschlauch aufgewickelt. Da schon mal die Heizung nicht funktioniert, gucke ich gleich, wie tief man aus dem Fenster springen muß. Wasser dürfte im Brandfall kaum fließen. Einigen Leuten ist es zu frugal.

 

Es ist noch keine zwei Uhr. Normalerweise muß Isi immer erst schlafen. Diesmal ist sie voller Unruhe, sagt selbst, von jagender Neugier. Will unbedingt sofort in die Stadt. Mutter und vier Kinder sind geflüchtet, als sie acht war. Hat vor siebenundvierzig Jahren die Orte zum letztenmal gesehen. Erzählt, wie sie damals vor Freude rumgelaufen ist, zu allen Bekannten und Verwandten: "Wir flüchten, wir flüchten!" Endlich was los. Die sind voller Entsetzen zu ihrer Mutter; was, Sie auch schon. Erst Mütter mit Kindern, Tante Senta mußte bleiben. Kriegswichtig als Zahnärztin. Die Führung wußte bescheid. Aber jeder hat geglaubt, er kommt zurück, hat nur gepackt, was er für die Reise brauchte. Sagenhafte Propaganda.

 

Ein Klapperbus fährt von der Waldhaltestelle bis zum Marktplatz. Der Fahrer war wohl unentschlossen, was unsere Mitnahme betraf. Hat uns zweifellos laufen sehen, ist an der Haltestelle vorbei und dreißig Meter dahinter doch angehalten. Die Fahrt kostet zweitausend Zloty, das sind sechzehn Pfennige. Noch keine Hektik in den Gesichtern der Fahrgäste, aber auch keine Neugier, eher freundlich-teilnahmslos. Der Bus macht einen Bogen, nimmt die Peripherie mit. Ein Kranz von Plattenbauten umgibt auch Lötzen. Begehrte Wohnstätten. Kommt nur drauf an, wie mans sieht: Bauernhütte ohne Wasser und Gas nur was für unsere Freaks, natürlich nicht zu lange. Frischgestrichener Plattenbau, Sonne und blauer Himmel, Blütenast von oben rein, Foto fürs Volk: Leuchtende Zukunft.

 

Isi wie unter Strom. "Das ist die Schinkel-Kirche, ja ganau, aber sie war damals aus roten Ziegeln... nicht dieser helle Putz... oder doch? Der Eingang... ja, aber der Marktplatz... da waren doch keine Bäume... oder... hier, das Haus hat damals auch gestanden, wart mal..." Sie läuft auf die andere Seite. "... das ist alles neu." Wieder auf die erste Seite. "Aber hier... mein Schulweg, die Ludendorffstraße... kann man garnicht mehr aussprechen... hier wurde ich angefahren... wie die Häuser verkommen sind..." Atemlos, wie ein kleiner Hund, wie von der Schnur gezogen, hierhin, dahin. Findet hier eine Ecke, da einen Baum, da ein Haus; meist fehlt das, was dazwischen war, wie ein Mosaik, sagt sie. Wieder der Putz, in den so viele Geschichten geschrieben sind, alte Wintergärten mit geschmiedetem Eisen, staubiges, spinnverwebtes, zerbrochenes Glas, Isolatoren in den Außenwänden, bunte Wäsche auf den Leinen, Schutt in den Höfen, uralte Fensterrahmen...

 

"Die Querstraße unten ist der Schlageterweg, in dem unser Haus gestanden hat." Parkland mit schönen Bäumen, dahinter der Löwenthinsee, Arztvillen, jetzt verkommen, mit Veranden, deutsch-masurischer ewiger Friede. Nur die Namen - leise eingewebt wie Dämmerung in die lustige Rheinfahrt. Vornan die Böhm-Villa, das schönste Haus von Lötzen, sagt Isi, bestens renoviert, Kinder im Garten und auf den breiten Treppen, wahrscheinlich eine Musikschule. "Gleich daneben war unser Haus, ja, wie Tante Senta gesagt hat, kein Stein mehr - was ist da jetzt, ein Schrottplatz?..." Ich gucke über den Zaun. "Nein, glaube eher, das ist ein Reparaturstützpunkt, wie wir in der DDR gesagt haben, nun, jetzt vielleicht ein Friedhof für Busse."

 

Ein flaches Bürogebäude oder eine Kantine, sozialistische Leichtarchitektur. Schwung der Nierentische, schräge Wände nach außen, abgeblätterter Gelbanstrich, große Scheiben und dahinter dicke Gardinen. Geheime Geheimnisse der dahingegangenen Zukunft. Wer hatte hier sein Heim? Fühlte sich drinnen wohl? Ein paar von den Klapperbussen stehen da, Motoren liegen daneben, ansonsten Stille. Pfützen auf der Straße haben den Durchmesser kleiner Tümpel, immer noch die alten Bombentrichter, sehr geeignet für einen Betriebsbahnhof. Die Straße war früher auch nicht gepflastert, aber der Bürgersteig, ja, die sechseckigen Gehwegplatten ruft Isi, alles unberührt. Schlagen jetzt nur Wellen, keine ist erneuert worden. Ein Pfad zwischen den Gärten, Isi erkennt ihn wieder, ist dadurch zum Bäcker gelaufen. Tante Senta durfte das nicht sehen, Brötchen waren nichts für die Zähne.

 

Doch Volkscharakter, diese Gelassenheit? Bin mir nicht mehr sicher. Andrerseits, die Millionen von Plattenbauten, Flüchtlinge aus Litauen, Weißrußland, Ukraine, bis weit hinter Kirgisien, mußten alle untergebracht werden. Offenbar weit größere Zahlen, als bei deutscher Vertreibung; ist bloß nie an die große Glocke gehängt worden wegen sowjetisch-polnischer Freundschaft. Und nun wieder Druck aus dem Osten. Bedenkt man die wenigen Generationen, ist die Völkerwanderung in vollem Gange.

 

In der Nacht werde ich wach. Könnte so gegen zwei sein. Zu lange im Bus gesessen. Meditieren hilft auch nicht. Greife mir den Walkman. Skala auf und ab. Das meiste polnisch. Viel Volksmusik und aufgeschlagerte Ohrwürmer. Dann russisch; ein paar Brocken aus der Schulzeit. Denke erst, ich hab was verstanden - waren aber fast nur die Fremdwörter. Schwedisch oder dänisch röde gröde med flöde. Finnisch? Schwer zu erkennen. Etwas schwach ein Sender in Sprache mit deutscher Lautbildung, aber völlig unverständlichen Worten - wohl was Baltisches. Dicht daneben, vorsichtig einstellen, türkische oder turkmenische Musik, mitreißendes Janitscharenorchester. Eine Frau singt voll und schön von ihrer sehnsuchtsprallen Honigmondsichel. Jadochja, verstehe kein Türkisch, aber Gesang. Höre lange zu. Der Mann klingt dagegen leicht sentimental. Kommt davon, wenn man eine Kultur entschärft.

 

Ein russischer Sender bringt Reportage in gebrochen Deitsch. Wie deutsche Ärzte einer moskauer Klinik helfen. Hätte früher nur umgekehrt funktioniert. Ein ferner Österreicher spricht Nachrichten. Sender pfeift und wabert aber dermaßen, daß nur die Hälfte zu verstehen ist. Wo bin ich? Amorphes Riesenland. Ströme der Völker ziehen vorüber. Hin und her wehte der Schleier der Sprachen; Wanderer, Heere und Trecks rauhten die masurische Stille nach der Eiszeit.

 

Stimmen der Völker. Mit der ersten Dämmerung verstummen die meisten. Sonne fegt die Ionosphäre. Nachrichten; die Welt wird sachlich.

 

Das Restaurant ist ein großer Rundpavillion am hohen Ufer. Blick in lichte Baumreihen und zu den Badestegen. Eine Treppe aus Granitsteinen, vor sechzig oder hundert Jahren in Erde gesetzt, führt hinab. Steine sind bogenförmig nach vorn gesunken, teils ins Gras gekippt, von nichts als der Zeit. An solchen Stellen entstanden die alten kleinen Schwarzweißfotos mit den gezackten Rändern und der Sütterlinschrift hintendrauf. Lachender Mann, jünger als heute das besorgte Kind, das er in die Luft hielt. Ahnt nichts vom Krieg in seinen weiten hellen gebügelten Seglerhosen. Erst auf dem letzten Foto, in schwerem Filz und mit Helm vor trostloser Tatra, die totale Verzweiflung. Oma weinte immer, wenn sie draufsah.

 

Setzen uns zu einem freundlichen Ehepaar an den Frühstückstisch. Wie immer, sie offen und lebendig, er auch, aber nur, wenn er gefragt wird. Sie hat ihm zum Sechzigsten die Reise in seine Geburtsstadt geschenkt, nach Rhein, ne Radtour von Lötzen entfernt.

 

Nach dem Frühstück ist Isi wieder nicht zu halten. Diesmal gehen wir zu Fuß in die Stadt. Gerade zehn Minuten durch Kiefernwald, dann ist rechts in der Tiefe ein See, vielleicht 50 m breit und 1oo lang. Ich sage, das ist doch der aus Deinen Träumen, mit der schwarzen Waldwand. "Nein, das war der Mauersee." Ich meine, der ist zu breit, hier ist schon am Tage der Wald nicht geheuer. Ja, könnte auch sein, räumt sie ein.

 

Dafür beginnen rechts der Straße die ersten Plattenbauten der Vorstadt, sofern man Lötzen eine solche zubilligen will. Eine kleine Familie, junge Eltern, ein Kind, geht spazieren. Wir fragen, welcher Seite der Gabelung wir zur Stadtmitte, Center City, folgen sollen. Man versteht, und der Mann zeigt uns den Weg.

 

Also zwischen den Bauten, die wir so trostlos finden, erholt man sich. Tatsächlich, wie schon gesagt, eine Frage des Standpunkts. Wo die Alternative gar kein Obdach ist, werden die Fassaden eben schön. Hatten was Friedliches, die Leute, keine Hetze im Gesicht und das Kind nicht verheult. Aber man hätte ja auch hinten am See lustwandeln können, meine da, zwischen Bahndamm und Uferholz, wo wir uns gestern beinahe verlaufen hätten. Es war da sehr dunkelgrün, wir trafen kaum jemanden, nur ein paar finstere Angler, die uns ansahen, als wären sie im Nebenberuf ertappte Wilderer. Vom besagten Standpunkt aus, dem nämlich, der die Siedlung schönte, wäre Natur also eine recht unwohnliche, feindselige Angelegenheit. Denn auch am Brunokreuz, noch etwas abgelegener - Isi erkannte die Stelle sofort, wo sie als Kinder - war niemand zu sehen. Erst als wir es fast aus den Augen verloren hatten, erschien dort eine helle Gestalt vor dem reglosen Himmel, hochfern und klein wie ein Strich.

 

Durch die Balkonstäbe sind wie Schuß zur Kette bunte Tuchbahnen in Wellen gezogen, manche handbreit im Gegentakt, manche so breit, wie der Balkon hoch ist. Ihre verschossenen Farben geben den Bauten was fröhlich Ruiniertes.

 

Das dunkle stille Wasser des Kanals war nun wieder genauso wie damals vor achtundvierzig Jahren. Dichtes Gras wuchs an den Rändern. Es stand noch ein Rest vom Schloß, ein Teil allerdings, hoch und glatt wie ein Lagerhaus. Wir mußten um ein modernes Hotel oder Gästehaus herumgehen, um auf die Baustelle zu kommen. Es hatte eine richtige sozialistische Fassade, sägezahnartig vorspringende Plattenelemente und fesch geschwungenen Betonbaldachine über den Türen. Hinter der Brücke bekamen die Plattenbauten Ladenzeilen im Erdgeschoß; ein Zeichen, daß man sich dem Zentrum näherte. Am andern Ende der Stadt war das Krankenhaus. Einige Querstraßen links davon entdeckten wir den Markt. Einen Markt kann Isi nicht auslassen. Und ich hoffte, da einen Wechsler zu finden.

 

Nicht, daß es alles gegeben hätte. Aber, wie unser Sohn einst auf die Frage antwortete, ob er alles für die Schule eingepackt hätte: "...ja, alles Mögliche", das gab es auf diesem Rastplatz der Völkerwanderung. Da standen Autos herum, wie gewürfelt, zwischen denen sich Käufer und Verkäufer drängten; es gab zweirädrige Wohnkarren mit winzigen Fenstern, durch die Gebäck gereicht und Geld kassiert wurde. Es gab überdachte Auslagen mit bunten Textilien, kleine Buden mit Andenken aber auch Tücher auf dem Sandboden mit nichts darauf, als einigen grünen Tomaten und etwas Weißkohl. Ja, da waren Auslagen ohne Tuch, die dem Inhalt eines umgekippten Mülleimers ähnelten. Diese ärmliche Mehrheit der Stände, nein Lagen, gehörte, wie wir später erfuhren, meist Russen. Sie hatten mindestens eine Nacht lang an den Grenzübergängen gewartet und erhebliches Bakschisch gezahlt, nur um hier ein, zwei Flaschen Wodka, getarnt durch Gemüse, zu verkaufen. Trotzdem wird manchmal alles beschlagnahmt.

 

Der Wodkapreis verdeutlicht das Wohlstandsgefälle: in Rußland für fünfzig Pfennig eingekauft, bringt er in Polen etwas mehr als zwei Mark und hinter die nächste Grenze verbracht, über zehn Mark. Und so, wie die Polen von zwei Flaschen Wodka, die sie in Berlin verkaufen, eine Woche überleben können, muß man sich die Wertsteigerung des russischen Schmuggelgutes auf diesem Markt vorstellen.

 

Die Wechselstube war eine komfortable Bretterbude mit einem richtigen Schalterraum darin. Der junge Mensch, der mit steinernem Gesicht die Scheine zählte, gehörte zweifellos zu den Großverdienern auf dem Markt. Allerdings tauschte eine Frau vor mir auch ein faustdickes Scheinepaket gegen eine nagelneue Hundertdollarnote.

 

Draußen gucke ich mit Isi in den Stadtplan. Man kann durch den Friedhof gleich hinterm Marktplatz, dann kommt man auch zum Krankenhaus. Ein Friedhof wie von Paul Klee. Beinah zugewuchert die Gräber. Schiefe Grabsteine, geschmiedete und geschwungene Eisengitter, halbversunkene Türchen, eine verrottete Kapelle, alles unter hohen Kiefern und Eichen. Auf den Steinen stehen aber fast nur polnische Namen. Dachte erst, es wären die Vorfahren von deutschen Flüchtlingen. Schöngefiltertes Sonnenlicht fällt auf die Schlingpflanzen, den Waldboden und die untergehenden Steine. Durch das Kraut bewegen sich vereinzelte Paare, wie von unsichtbaren Händen getragen.

 

Isi traut sich erst nicht in das Krankenhaus, weil vorn am hohen Gitterzaum eine Pförtnerloge wacht. Ich sage zu ihr, einfach durchgehen, dann wird nicht gefragt. Tatsächlich. Ein Parkweg führt uns zum Haupteingang. Ein Spitzbogen und innen Ziegelrippen wie in einer Kirche. Das ist es, sagt sie, hier hab ich so oft meinen Vater abgeholt. Und genau derselbe Geruch, wie vor vierzig Jahren. Deswegen sind wir weggezogen, ich konnte ihn nicht ertragen. Jetzt packt es sie doch, und sie muß weinen. Laß uns mal gucken, sage ich. Weißgestrichene Wände mit Glasfenstern darin. Die Schwestern kommen zusammen, stellen sich an einem Schalterfenster an. Haben so eigenartige Häubchen auf, nur für den Hinterkopf. Früher warens die Kaiserswerther Schwestern. Die meisten sollen damals nach Uelzen entkommen sein. Essenausgabe, frage ich. Weiß nicht, sagt Isi, da sind doch keine Tische. Wir könnten reingehen, weil uns niemand beachtet, aber Isi will nicht. Vom Park aus zeigt sie mir die Wohnung, die sie zuerst hatten. Es war oben im vierten Stock.

 

"Komm, wir gehen jetzt die Bergstraße runter, da hatte mein Vater schon das Grundstück, wo unser eigenes Haus hinsollte." Die Bergstraße war wohl zu unbedeutend, um sie umzubenennen. Sie heißt immer noch die Gorna. Oben steht Lohes Villa in alter voller Pracht. "Das gibts doch nicht, genau wie früher, die Garage, das Tor... der Zaun, wo ich runtergesprungen bin... der Putz noch ganz," Isi kommt aus dem Staunen nicht heraus, "...das Tor frisch gebeizt und sogar der goldene Klingelknopf..."

 

Lohe war der Chef; Isis Vater mußte in den Krieg. Lohe hatte Beziehungen. In seiner Villa gingen Himmler und die Goldfasane ein und aus. Die Kriminellen erkannten sich am Geruch; der Sekt floß in Strömen. Isi war als Fünfjährige einmal dabei. Alkoholvergiftung, hat achtundvierzig Stunden geschlafen. "In den zweitältesten hab ich mich später verliebt," sagt Isi. "Ach, das mußt Du mir erzählen," sage ich mit fröhlicher Neugier und einem leichten Stich im Herzen.

 

"Sein Vater hat ihn auf dem Gewissen," meint sie nachdenklich. "Wäre auch ohne Faschismus Faschist geworden, der Alte. Hat seine Kinder mit dem Stock erzogen." Kronsohn erst doppelter Doktor Theol. und Jesuit, dann nach undurchsichtiger Affäre aus dem Orden relegiert. Notheirat, aber nicht wegen Kind, und schließlich grad noch als Lehrer untergekommen. Der älteste ähnlich. Erst bei Christian, dem dritten, hatte der Alte wohl genug. Christian war nämlich der Riese Timpetu.

 

Das muß ich erzählen. Isi war wohl sechs, da gab es in Lötzen den Film. Alle Kinder waren da. Und der Riese Timpetu war unheimlich stark und konnte Bäume ausreißen. Hinter Lohes Villa, wo heute ein Verwaltungsbau mit Werkhof steht, war früher eine Gärtnerei. Der Heimweg nach dem Kino führte natürlich über deren Zaun. Und der Riese, also Christian, hat dreißig frisch gepflanzte Bäume ausgerissen. Nicht alle in der Gärtnerei, einige noch unten in dem Wäldchen, durch das man zum Bahnhof kommt. Natürlich Riesentheater, aber auch das hat er überstanden.

 

Dabei sind wir langsam das Holperpflaster der steilen, kurzen Gorna hinuntergestiegen und stehen vor einem polnischen Haus, diesem Würfelbau mit Flachdach. Eine Frau guckt aus dem Fenster und sieht, wie Isi mir die Häuser und das Grundstück zeigt. Wir nicken ihr freundlich zu, sie lächelt, und dann schließt sie das Fenster und kommt über die Terrasse und durch den Garten zu uns an den Zaun. Etwas Englisch ja, und wir fragen erst woher. Ihr Mann wäre arbeitsunfähig wegen Kreislauf seit vier Jahren, und sie hätte in England und Kanada als Haushaltshilfe Geld verdienen müssen. Zwei Jahre lang. Keine Arbeit in Masuren. Sie wäre zwar Polin, aber nicht von hier, ihre Eltern wurden aus Wilna vertrieben und sind lange obdachlos gewesen. Nicht zu glauben, aber wir haben in Polen nur mit Vertriebenen gesprochen.

 

Wer denn jetzt in der schönen Villa oben wohnte? Das wäre der Chef vom Krankenhaus, sieh da, der hätte sie damals gleich übernommen, wäre inzwischen aber pensioniert. Ob sie mal wieder ins Baltikum zurückwollte? Sie wäre zwar mal dagewesen, aber zurück, nein, hier hätten sie das Haus gebaut. Auch das eine Erfahrung: von den Vertriebenen, auch von unsern deutschen Reisenden, wollte keiner zurück. Ansprüche aufs Land erhoben nur die, die nie da gelebt hatten.

 

Der Bahnhofsvorplatz liegt still in der Sonne. In der Mitte stehen fümwe im Blaumann. Einer macht sich am Pflaster zu schaffen, vier denken mit. Keine Hektik. Auch der Knieende scheint die Steine mehr zu beraten, als zu traktieren. Ihre halblauten Stimmen übertönen nicht das hohe lautlose Singen der Sonne. Hier wie auch auf den Bahnsteigen, wo das Gras wächst. Zweimal am Tag ein gemütlicher Dieselzug, laut pfeifend. Sonst fünfzig Jahre Ruh. Einzige Störung war die Namensänderung von Lötzen in Gizycko. Isi kennt meinen Hang zu kleinen Bahnhöfen. Fernwehperspektive der Schienen. Allenstein, Warschau, Lissabon. Angesichts herbstlich treibender Spinnfäden, zwischen den Halmen des vom halben Jahrhundert gewellten Pflasters die weite Welt als schmerzlose Möglichkeit.

 

Von drei Vorschullehrerinnen oder Kindergärtnerinnen geführt, erscheint, nicht plötzlich, aber überraschend, ein Zug von etwa drei Dutzend Kindern. Kein lautes Wort, kein Rennen, kein Geschrei, jedes hat eins an der Hand, in braven Zweierreihen. "Wo siehst Du das bei uns, daß die Kinder an die Hand genommen werden," fragt Isi, "da brauchst Du kein Schimpfen." Nein, die sehen nicht gezwungen aus. "Die Abfahrt möcht ich noch sehen, laß uns hier sitzen," sage ich. Der Zug - nicht der Diesel, der ist weit und breit nicht zu vernehmen, der Zug der Kinder - nimmt Aufstellung auf dem Hauptperron am Empfangsgebäude. Und die Frauen erklären wohl etwas, eine gute Viertelstunde lang. Als ich denke, nun könnten sich alle mal irgendwo hinsetzen, weil es vielleicht eine Verspätung gegeben hat, setzt sich der Zug in Bewegung. Er verschwindet im Tunnelabgang und taucht auf dem nächsten Perron langsam wieder auf. Aha, von da soll es losgehen. Oder wie? In seltsamer Lautlosigkeit verhalten sie. Eine Viertelstunde später das gleiche Spiel mit dem dritten Bahnsteig. Kein Zug.

 

Man verbringt die Zeit bis zur Abfahrt also mit Lernen. Sehr vernünftig. "Wart, ich guck mal auf den Fahrplan," sage ich zu Isi, als sie unruhig wird. "Brauchst Du nicht," sagt sie, "sieh mal." Die ersten Kinder sind mit einer der Frauen schon im Abgang verschwunden. In ihren Glockenjäckchen und Pumphosen stellen sie sich vor dem Empfangsgebäude auf. So still und friedvoll wie sie gekommen waren, verlassen sie den Bahnhof. Lehrstunde Praktisches Reisen.

 

Am Abendbrottisch gibt es Zoff. Josef hat gestern den Fehler gemacht, die Reisenden entscheiden zu lassen. Eine Bootsfahrt wurde angeboten vom Leiter des Feriendorfs persönlich. Wo soll sie langgehen, was kostet es, wieviele fahren mit, wann kommen sie zurück undsoweiter. Die Diskussion wollte nicht aufhören und Josef immer hin und her zwischen dem Telefon und der Reisegruppe. Es ging dabei auch um den Einzelpreis, weil das ganze Boot zu mieten war. Und eben am Tisch erklären einige, sie hätten was billigeres gefunden und würden abspringen. Nicht etwa schuldbewußt, sondern schimpfen noch auf Josef. Der fängt vor Schreck an zu stottern, statt die Bande zusammenzuscheißen. Nicht anzusehen, also ich hin und übernehme das für Josef. Sie hätten ihre Zusagen gefälligst einzuhalten und nicht wegen ein paar Mark die andern sitzenzulassen, ob man sich auf keinen mehr verlassen könne undauchsoweiter. Besonders eine Frau mit einem dicken ewig verheulten Gesicht hatte es mir angetan. Offenbar unter schwerstem Druck, immer unzufrieden und sofort aggressiv, wo sie eine Schwäche fand. Meine Schuld, wenn sie nicht durch die Decke kam? Dissertation: Wieviel Toleranz gegen Intoleranz? Lob von den Tischnachbarn kassierte ich noch obendrauf. Sie hätten auch gleich eingegriffen.

 

Eine alte Geschichte. Vergleich mal die Frauenbilder der Cranachzeit, italienische und deutsche. Die deutschen sehen immer verhauen aus. Prügel sind erblich. Schöner Generationenvertrag. Selten die Leichtigkeit und Freiheit der italienischen, nicht mal der Niederländerinnen. Warum? Ein leiser Rest von Hexenjagd?

 

Wie lange sollte der Löwenthinsee noch auf uns warten, das eigentliche Masuren? Immer hatte er durch Buschwerk geblinkt, hatte mit hellem Horizont im Hintergrund gelegen, war vom Schlageterweg aus, oder vom kleineren Mauersee in der Ferne sichtbar gewesen. Aber bisher nie von Angesicht zu Angesicht. Den nächsten Morgen suchen wir - kleiner Vorhalt - erst einen Buchladen. In Deutsch gibt es wenig, aber Isi findet einen schönen Band über polnische Volkskunst. Hätte bei uns sechzig bis hundert Mark gekostet. Isi kauft ihn für fünfzehn. Drei Angestellte werden tätig. Bei der ersten Frau muß sie bestellen, die zweite schreibt auf und die dritte kassiert. Jede hat ihren eigenen Schalter.

 

Nun die Ludendorffstraße runter, nicht in den Schlageterweg sondern rüber und über die Gleise. Aber noch ein Vorhalt vorm großen Thema. Durst, und das Schrankenhäuschen ist zu Hälfte ein Café geworden. Unter den bunten Schirmen sitzend werden wir sanft aber unwiderstehlich auf eine Reise in die Vergangenheit genommen. Da waren die Riesenbäume, unter denen Isi gespielt hatte. Ich erkenne die nie Gesehenen, die nach und nach den Rasen freigeben. Der erstreckt sich dann weitläufig zum See hin und scheint mehr grünes Licht von sich zu geben, als er empfängt. Rechts die alten aber frisch gestrichenen Badekabinen in einer leichten Senke. Ich mußte an den "Tod in Venedig" denken, wo der Regisseur die größte Mühe darauf verwandte, die Gemächlichkeit der Jahrhundertwende ins Bild zu setzen. Hier hätte er sie umsonst gehabt. Draußen die Bootsstege, wo damals Sentas Jolle lag. Links der Damm, der den dunklen wartenden Hafen einfaßte und eine Promenade mit Bänken trug. Weit auseinander die flanierenden Menschen, wie in den Gefilden der Seligen. Und voraus hell und ruhig das Wasser mit den fernen Schilfrändern, das Masuren ganztägig zum Land der Morgenstille macht. Senta hatte es nicht wieder gesehen, als sie sich vor zehn Jahren in Hamburg das Leben nahm.

 

Isi erzählt, wie Senta ihr das Schwimmen beibrachte: Auf dem Küchentisch Trockenübungen und beim Segeln ins Wasser geworfen. Es funktionierte. Das flache Ufer ist hier durch einen Steindamm gesichert. Ich ziehe Jacke und Hemden aus und lasse mir die schöne warme Sonne auf den Bauch scheinen. Dann wie ihre Mutter mit den vier Töchtern baden ging: Friederike, Fritzchen genannt, Nummer drei, heute Künstlerin, gerade lauffähig, rennt mit Sachen rein und muß gerettet werden. Jeden Tag ne Katastrophe. Und dann auf die Flucht.

 

Isi geht zur Promenade. Ab und zu zieht ein Segelboot draußen vorbei. Einmal fährt ein kleiner weißer Dampfer mit wenigen Passagieren aus. Von weither rollen langsame Wellen heran. Mangels Größe laufen sie geräuschlos am Ufer aus. Schwäne vermuten Futter bei mir. Da ich sie nur träge betrachte, ziehen sie wieder ab. Ich hatte es früher oft vergeblich probiert, aber jetzt gelingt es von allein: Ich kann garnichts denken. Ist es die Weite? Das Salzmeer ist größer, und trotzdem, Zeit und Raum werden hier eins, halten einfach an.

 

Ein andermal wollen wir wissen, was die "Gesellschaft für die deutsche Minderheit" ist. Man hatte uns die Adresse genannt. Wir müssen am Bahnhof vorbei und dann eine verlassene Straße nach auswärts. Da treffen wir Frau Antelmann aus unserer Reisegruppe, die fragt, ob sie sich anschließen darf. Sie erzählt, daß sie ihr Haus wiedergefunden hätte. Wäre am Zaun entlang und drumherum gegangen, bis die Bewohner aufmerksam geworden wären. Sie hätte mit Zeichensprache geradebrecht, die Bewohner auch, bis sie verstanden hätten, daß sie als Kind hier gelebt hat. Sie wurde hereingebeten, man hätte freundlich weitergestikuliert und sie am Ende bewirtet.

 

Angefangen hatte die Sache allerdings damit, daß ich ihr ein paar Takte gesteckt hatte. Herrn Riese erzählte sie, daß sie ihre alten Grundbuchauszüge und Besitzurkunden mitbringen wollte. Der meinte, ob sie noch bei Trost wäre. Sie: das wäre doch nicht ihr Problem, wenn die Leute Reminiszenzen hätten. Ich: das müssen Sie sich aber mal umgekehrt vorstellen, vielleicht klingelts dann. Z.B. einen Russen, der bei Ihnen reinschaut und sich erinnert, wieviele Teppiche er mitgenommen und was er mit den Frauen angestellt hat. Da hatte sie zwar geschwiegen, aber wohl ohne Einsicht. Zugegeben, so ganz hatte das Gleichnis ja auch nicht gepaßt. Jedenfalls hatte der Besuch einen ganz unerwarteten Ausklang: am Ende hatten alle zusammen Lieder gesungen.

 

Als wir nun das Gebäude suchen, scheint sie ohne Groll zu sein. Wir finden einen bürgerlichen Verwaltungsbau aus vermutlich kaiserlicher Zeit, fünfzig Meter lang, zweieinhalb Stockwerke hoch, immer noch in Ocker und am Haupteingang mit den Schildern zahlreicher Behörden versehen. Darunter auch eins mit "niemecz" und "minor..."; das muß es sein. In dem Hause rührt sich nichts. Wir drücken die Türklinke; die Tür geht auf. Ein großer Flur, Amtszimmer an Amtszimmer, alle numeriert. Nicht allzu amtlich, eher verwohnt; kein Environment der Einschüchterung. Die meisten sind abgeschlossen, die offenen sind leer. Die Toiletten sind auf, gottseidank. Nur so, daß Isi nicht drauf geht. Frau Antelmann erkundet das nächste Stockwerk. Alles verlassen. Ganz oben gehen die Türen auf den Dachboden. Freier Eintritt für Brandstifter. Aber in Polen fehlte wohl doch der letzte Glaube an die Autorität der Behörden, so daß nun auch keine Bilderstürmerei zu befürchten ist. Auf den Fluren stehen einige Möbel rum, Packmaterial, sogar Textilien - die richtige Strenge fehlt. Das Zimmer zu besagtem Schild, das wir suchen, ist nicht zu finden. "Wahrscheinlich in den Keller verlegt," sagt Frau Antelmann, "aber der ist abgeschlossen". Naja, Freitagnachmittag, sage ich, es ist wohl wie bei uns.

 

Auf dem Rückweg wollen Isi und ich nochmal die Bergstraße hoch. Frau Antelmann kommt mit, weil da die Schule liegt. Dieselbe Schule, fragt Isi. Genau die, sind beide darauf gegangen. Isi erzählt, wie sie einmal Schläge bekommen hat. Lineal auf die Finger. Ihr Vater sofort mit ihr zur Lehrerin. Die Kinder würden ohne Schläge erzogen und sie sollte sich unterstehen, das zu ändern. Die Kinder würden nicht geschlagen, ob sie das verstanden hätte. Sie hatte. Die Frauen werden von mir vor der Schule fotografiert. Ein leerer Schulhof, lebt von den Geistern. Spiriti, spiriti, immer Kinderstimmen. Die von vorhin oder die von damals? "Warum hat sie Dich eigentlich geschlagen?" frage ich. "Hatte ihr vors Schienenbein getreten." "Wie?" "Ja, das kam vor, ich war ein schreckliches Kind."

 

"Über das Tor da bin ich auch mal. Gradeaus durch alle Gärten und über alle Zäune." "Das Riesentor... die Gärten... wieso?" "Ja, weiß auch nicht, ich wollte keinen Umweg machen, nur nach Haus; als ich ankam, sah mein Vater, daß ich voll die Gelbsucht hatte."

 

Da Frau Antelmann nun eine Taxe ins Feriendorf nimmt, suchen wir beide ein Restaurant oder ein Café mit irgendeinem Mittagstisch. Am Marktplatz, wo die Haltestelle ist, treten die Fassaden zurück. Es gibt da so einen Vorplatz zum Kulturpalast oder Kinosaal, fragile postmoderne Pracht, Gewesene. Ein Streifen an der Seite, fünf Stufen hoch, ist hinter Glas mit Freilufttischen und weißen Kunststoffstühlchen unter Sonnenschirmen möbeliert. Eintritt durch die ebenerdige Straßentür. Ein dunkler Vorraum in rotem Samt mit Garderobe. Ein uraltes Paar in drapierten Lumpen bewacht und bedient hinter dem Tresen und kassiert gleichzeitig für die exotische Toilette. Dann die besagten fünf Stufen in den Hauptraum. "Eßraum" wäre zu wenig. Ein Angriff auf alle Sinne, der mich fast wieder hinausgeworfen hätte. Dunkelrote Tapeten und lange gelbliche Gardinen. Rechts niedrige Tische, an denen geraucht und gegessen wird, links Billard und verstreute Hocker, auf denen die Sportler rauchen und kommunizieren. Es sind die élégants des Städtchens; sie haben Mädchen auf dem Schoß. Dazu Nasen- und Ohrenschmaus, Scheppern und Kratzen aus dem Lautsprecher, Schwaden aus der Küche. Schnell raus auf die sonnige Terrasse und tief durchatmen.

 

Die junge Frau bringt erst eine Karte in polnisch, dann, nach einer Weile, in deutsch. Eugenia Kokot kommt zu Hilfe. Sie hat ganz weißes dünnes Haar, kann nur noch sehr schwer gehen und spricht sehr schweres deutsch, von Atemnot unterbrochen. Ich ziehe ihr einen Stuhl an unern Tisch. Wir wissen noch nicht, daß sie die Schwiegermutter der Inhaberin ist. Wir zeigen auf der Karte, was wir wollen, die Kellnerin versteht schon, trotzdem sagt es Eugenia ihr noch auf polnisch. Fragen ein wenig und erzählen, wo wir herkommen. Sie ist Apothekerin in Wilna gewesen, vertrieben - in Züge gepfercht, ab, und in Bromberg rausgeworfen - ein Jahr ohne Obdach, später nach Gysicko. Zieht sich dann klug zurück und läßt uns alleine essen.

 

Ich erzähle Isi vom Achten Wochetag: Sonja Ziemann und Spiginiew Czybulski suchen in Warschau ein Zimmer, nein, eine Stelle, wo sie allein sein können. Finstere Erotik. In der unverputzten Ecke eines Neubaus wilde Küsse, ihre Brust ist schon frei, auf einmal brüllendes Gelächter von oben; Bauarbeiter. Zu Hause auch unmöglich. Dampf und Geschrei in der kleinen Küche, schimpfende Mutter, wild stierender Vater. Dann bei einem Freund; der grinst so dreckig, daß er Dresche bezieht. Der nächste ist reich, eine Riesenwohnung, "Journalisten sind Leute, die immer die Wahrheit sagen," ganz offen, keine Skrupel. Geht dann irgendwie auch nicht. Undsoweiter. Isi hört nicht zu. Geht plötzlich rein. Ihr sechster Sinn.

 

Ich studiere die Zeitung der Deutschsprachigen in Masuren. Oder war es nur in Lötzen? Jedenfalls ein Artikel über "Seltsame Gäste". Es geht um die Russen, die in Scharen über die Grenze kommen. Einmal das, was uns die Reiseleiterin schon erzählt hatte, also die Armut, das nachtlange Warten an der Grenze, der hohe willkürliche Zoll, die Kriminalität. Auch das Aussehen. Dieselben Töne, wie bei uns von ganz rechts, nur unbefangener. Dann aber auch die Organisation, die dahinter steht. Man kann nicht nur schäbiges Zeugs und kleine Schmuggelware erwerben; es gibt alles, was bezahlt wird. Antiquitäten und Edelmetalle, sogar Westautos, vor allem aber Waffen. Der Interviewte ist bereit, alles zu besorgen, schweigt sich aber über die Quellen aus. Ein Foto ist gestattet; es wird als Werbung verstanden. Was auffällt: keine Angst vor Überfremdung oder Kosten. Wer nach Polen kommt, fährt zurück oder durch; Asyl wird nicht beantragt.

 

Isi kommt wieder raus. Wie zerstört. Wischt sich die Augen, richtig aufgewühlt. Denke erst, hoffentlich keine KZ-Geschichte, wo die Frau ihr Deutsch her hat. Was Schlimmes, frage ich. "Nein," sagt Isi, "alles kommt jetzt hoch - sie hat Senta gekannt, sie war Apothekerin." Muß erst mal weinen, "jetzt hat es mich doch erwischt! Bin eigentlich nicht deswegen hergekommen." Da sind sie, die Toten. Mindestens zwei Generationen haltbar. Erst danach beginnen sie, blasser zu werden.

 

Nee, sag ich, Du findest doch immer jemand. Ist Tatsache, ob bei der Lufthansa, bei Woolworth oder in Masuren, Isi spricht die Leute an und der eine kennt ihre Tante in Graz, der andere ging mit ihr zur Schule und Eugenia hat mit Senta zusammengearbeitet. Praxen gab es wohl zu der Zeit nicht mehr; Senta war dann Zahnärztin am Krankenhaus, hatte natürlich öfter mit der Apotheke zu tun. Die Frauen sind zusammen an den Strand gegangen. Senta war sehr angesehen, trotzdem öfter im Gefängnis. Wußten wir auch von ihr selbst. Wäre sehr beherzt gewesen, meint Eugenia. Wahrscheinlich immer Sabotage vorgeworfen, wenn was kaputt ging an den alten Geräten. Keine Ersatzteile, einer muß Schuld sein. Eugenia kommt nochmal raus, fragt was wir möchten. Jeder bekommt ein schönes Eis als Gabe des Hauses.

 

Nach dem Mittagsschlaf schlendern wir unter den großen Kiefern lang durch unser Feriendorf. In so einem Gemeinde- oder Gebetsraum haben Kinder die Laster der Gegenwart gemalt, ein Triptichon. Links, die Drogengefahr war durch eine Spritze symbolisiert, der Alkohol in der Mitte durch eine reine blaue Fläche, wie Le Monochrome es machte und rechts Aids, das war natürlich ein Ding, durch ein tanzendes Paar. Der Protest blieb nicht aus. Ich sah ihn am Nachmittag, als ich auf dem Bootssteg lag. Ein Segelboot kam vorbei. Der Name: AIDS.

 

Unten am Abhang ist eine schmale Straße, und dahinter ein langes gelbes dreistöckiges Gebäude, sagen wir, ein Gästehaus. Erst gehen wir daran vorbei, zum Wald rauf. Es ist Jagdsaison. Schüsse knattern so dicht, als würde das Wild zurückschießen. Regelrechte Feuergefechte. Ich ziehe vorsichtshalber meine rehbraune Windjacke aus. Kein Jäger ist zu sehen. "Laß uns zurückgehen," sage ich zu Isi.

 

In dem gelben Gebäude ist die Bar von Teresa. Laut schedul geöffnet, aber wie in Italien, aperto ist eben auch halb auf oder bald auf oder vielleicht auf. Wir setzen uns an die Blechtischchen in der schrägen Sonne.

 

Ich lese Isi meine Erfindung mit der Honigmondsichel vor. Sie meint, das hast Du wohl reinhören wollen. Ich sage, nein, das hat die Frau echt suggeriert. Die war stark, nur der Mann war irgendwie schwächer. Naja, meint sie, der hat ja auch nicht sowas.

 

Da ist nämlich Josef und wartet auch auf Bedienung. Er ist irgendwie erregt, atmet schwer bereits beim small talk. Er flüstert wie unter hohem Druck. Wie dumm, wie gefährlich dumm die Deutschen, ihre Regierenden wären, ja, indem sie Polen Kredite gäben. Nur weil Walesa droht, eine halbe Million zu schicken. Hätten sie nicht schon genug Land verschenkt?! Josef zieht mit Schweißtropfen auf der Stirn einen verschlissenen Zettel aus der Brieftasche und liest vor: Schlesien soundsoviel Quadratkilometer, Westpreußen, Ostpreußen, Königsberg soundsoviel, dazu die bisherigen Kredite; die Hände zittern ihm, als er es zusammenfaltet. Er hieße Klein mit Hausnamen, aber dies dürfe er nicht einmal zu Hause erwähnen, jedenfalls nicht gesondert, und mit der Erklärung, daß er Deutscher sei und es bleiben wolle, gäbe er sich gänzlich in unsere Hand. Es gäb hier zwei Minderheiten, die ganz schlimm dastünden, die Deutschen und die Ukrainer. Die schwierige Stellungnahme dazu erspart uns ein weiterer Besucher in guter spe, der sofort witzelnd und schwadronierend die Unterhaltung an sich reißt.

 

Allerdings - der hatte was zu erzählen. Fünfundsiebzig Jahre alt, aber lang und gerade, Hakennase und weiße Haare nach hinten, wie ein Sekretärvogel, alter Königsberger aus der Schweiz, in Tapiau geboren. Hatte viertausend Kilometer im eigenen Wagen hinter sich. Konnte reden und reden und die Moral immer dabei. Die Menschen, die machen dies, die Menschen, die sollten, die Menschen, die sind so.

 

Gestern war er gerade aus dem Dorf bei Kö zurückgekommen, wo er zur Schule gegangen war. Auf der Hinfahrt hatte er eine Frau getroffen, die bis vor kurzem als Lehrerin gearbeitet hatte, eine Russin, die ihre Stellung verloren hatte, aus Kasan nach Königsberg verschlagen. Sie kümmerte sich jetzt klug um Denkmalspflege. Sorgt dafür, daß das Haus von Lovis Corinth ne Gedenkstätte wird. Im Moment leben da noch Zigeuner drin. Wer weiß, von wo die gekommen sind. Sie hatte autodidaktisch englisch und deutsch gelernt, Geschichtskenntnisse erworben und eine Art kartographische Aufnahme der denkwürdigen Stätten gemacht. Es gab schon Sponsoren, so daß sie sich und ihre zwei Kinder durchbringen konnte. Zeigte ihm auch alles und fuhr mit ihm herum, bis sie ans Ufer kamen. Da brachte sie ihn zu den Booten runter, er konnte sich eins mieten und ist dann rumgerudert auf der Nehrung. Vor sechsundfünfzig Jahren das vorletzte Mal.

 

Da war weißer Sand und auch Fischerei, Netze und schwere dunkle Ruderboote, milchiges Meer und Bekannte von ihr, so daß er sofort eingeladen war; kaum daß er weiterkam. Die Trabantenstadt, ich spinne jetzt mal, weil ich seine Worte vergessen hab, nur das Bild steht mir vor Augen, die Trabantenstadt weit weg und weißlich am Horizont.

 

Der Sekretär macht Quatsch am Tisch der Polengruppe, tanzt mit Teresa. Erzählt dabei seine Stories. In seinem Heimatort fand er dann tatsächlich noch drei Mitschüler. Und hier wurde er nicht nur schon wieder eingeladen, sondern er erfuhr nach fast fünfzig Jahren, wie damals bei der großen Flucht sein Vater umgekommen war. Eine Generation lang hatte er nur Gerüchte gehört. Die Russen wären es gewesen, die Cholera, die Polen oder eine Granate oder sonst was. Teresa hat für ihn was gekocht, aber er erzählt und erzählt. Und dieser Schulfreund sagte, natürlich weiß ich das, ich war dabei. Die deutsche Militärpolizei wars, ein Kettenhund. Dein Vater hat die Flüchtlinge eingebootet. Da kamen die und haben ihn beiseitegeschoben, "...erst das Militär!" Er hat den einen mit dem Ellbogen zurückgestoßen, ziemlich kräftig, so daß der MP ins Stolpern kam, "...erst die Zivilisten!". Da wars passiert, der Kettenhund zog die Pistole und hat ihn einfach niedergeschossen, ja. Der Mitschüler entschuldigt sich, Fleisch gäbe es nicht, aber Eier und Gemüse und natürlich Wodka, wieder ein Festessen. Unvorstellbare Armut jedesmal, aber es wird aufgetragen. Sauerampfersuppe, dann Kartoffeln oder Grütze, etwas mit Ei, nur Fleisch ist einfach nicht zu haben.

 

Denke an Josefs Worte von den Deutschen und den Ukrainern und an die Fernsehbilder. Wie der anonyme Haß und die Angst regieren, wie sie geschürt werden. Da ist ja nicht nur der Haß zwischen den Volksgruppen, sondern, wie man bei Wajda sehen kann, auch der Klassenhaß zwischen Arbeitern und Partei. Nicht wie bei uns eine Sache von gelegentlichen Ausbrüchen, sondern virulenter Alltag. Explosive Situation, denn was wir in Deutschland durch Organisation anrichten, das läuft hier leicht in Handarbeit. Und wie trotzdem alles in Gastfreundschaft und Feierei umschlägt, sobald man sich in die Augen guckt. Bin nicht sicher, daß das bei uns so käme; da hätte möglicherweise jeder seine Pflicht getan.

 

Der Begleiter von Teresa kommt und fragt höflich, ob der Sekretärvogel nicht sein Essen nehmen möchte. Ich frage ihn, ob das der Mann von Teresa ist. Er sagt nein, mit dem Mann hat sie Schwierigkeiten. Der säuft nur, die Ehe wäre nicht gut, sie führt die Kneipe alleine. Angeblich kann sie kein Deutsch, aber als es ihr zu viel wird, kommt sie zum Sekretär und sagt nur zwei Worte: "Komm essen!" Er kommt.

 

So haben die Reisenden alle Ihre überfallartige Begegnung mit der Vergangenheit. Mancher sieht plötzlich die Tischdecke, an der er vor fünfzig Jahren gegessen hatte. Tote werden gegenwärtig, in uralte Häuser werden sie eingeladen, rückständige Freundlichkeit umgibt sie. Jeder berichtet von einem Moment der Tränen, der Panik, des Sichverkriechens, keiner aber von dem Wunsch zu bleiben. Trotzdem, es hat was von Ewigkeit, das Vergangene derart konserviert zu finden; schüttelt jeden einmal durch.

 

Abends nochmal Treffpunkt bei Teresa. Sehr große schwarze Augen, wie eventuell schon erwähnt. Sekretär zwirbelt seine weißen Haare wie zwei Hörner seitwärts über den Ohren, volksredet, tanzt, animiert. Teresa sitzt bei einer polnischen Gruppe. Die hatte gestern Wiedersehen gefeiert mit ihren Amerikanern. Von uns waren einige anwesend; wurden gleich eingeladen und haben mit gegessen.

 

Teresa guckt immer woanders hin, nicht zu mir, ist beschäftigt. Ich beobachte mit Vorsicht. Polinnen spielen das Spiel sehr genau. Nur ein einziges Mal trifft mich ein tiefschwarzer Blitz. Unachtsamkeit? Wegen vorzeitigen Abbruchs der Forschungsarbeiten kann diese Frage keiner abschließenden Klärung zugeführt werden. Beim Bezahlen dann guckt sie wieder nur auf die Theke.

 

Die Toilette ist einen Stock höher. Gehört zum Ferienheim und zu den bemerkenswertesten ihrer Art. Die Tür hängt schräg in den Angeln, so daß man sie nicht zu berühren braucht. Innen sieht es aus, als wäre eine Schokoladenbombe explodiert. Riecht bloß anders. Hier hat King Kong es offenbar durch den geschlossenen Deckel versucht und erst beim dritten Mal geschafft. Letzterer ist nämlich halbiert, genauso wie die Brille. Ein Handkantenschlag hat auch den Wasserkasten getroffen. Der hängt mit geborstener Abdeckung schief von der Wand. Der Spülgriff dürfte bakteriologisch eine Fundgrube darstellen; eine Art weiche Patina hüllt ihn ein. Betätigung erübrigt sich insofern, als das Wasser ununterbrochen von alleine läuft. Denn siehe, auch die Blumen auf dem Felde und die Vögel im Himmel, sie sorgen sich nicht.

 

Heute früh gibts kein warmes Wasser. Es wäre aber schon mal repariert worden, doch, die Kolonne wäre heut schon dagewesen. Aber es wäre wohl wieder kaputtgegangen. Jetzt müßte man sie nochmal rufen, da könnte man nicht mit schneller Resonanz rechnen.

 

Einen Nachmittag gehe ich allein zum Mauersee runter. Morgens hatte noch dichter Nebel gelegen. Gerade fünf Meter Steg waren zu erkennen. Im Unsichtbaren wurde gefeiert und geredet. Ein bischen Musik im Hintergrund. Hörte sich an, als wäre es keine zwanzig Schritte entfernt gewesen. Sehe jetzt, daß es mindestens das Zehnfache war. Geisterreigen.

 

Die Stege umfassen das Bad im Viereck. Am Sprungturm und 20-30 m weiter an der Ecke sind sie verbreitert. Unterm Sprungturm hat sich ein Angler installiert. Nehme also die Ecke auf den velängerten Bohlen. Die Frühherbstsonne scheint hell aber mäßig warm. Ich gucke erst, ans Geländer gelehnt. Beobachte die Wellen, den Angler, die Boote, den Waldrand gegenüber. Hier ist einiger Wasserverkehr, vor allem vom Löwenthinsee zu den Anlegestellen im Mauersee, immer am Bad vorbei. Man kann jedem Boot gemütlich nachgucken, bevor das nächste kommt. Obwohl, es soll laut Reiseleitung das Wassersportzentrum ganz Polens sein.

 

Der Angler bleibt still für sich, sieht nicht herüber. Denke, dann kann ich auch noch die Sonne mitnehmen und ziehe mich langsam aus. Fotoapparat in den Pullover gewickelt gibt ein Kopfkissen. Badehose erstmal daneben. Ziehen Wolken vor die Sonne, ist es eine Spur zu kühl. Überlege daher lange, ob ich ins Wasser gehe. Habe immer eine unbestimmte Sehnsucht nach dem vergangenen Sommer. Solange er da ist, ist es mir zu voll in den Bädern. Dann, im Herbst will ich ihn zurück.

 

Ich warte das nächste Wolkenfeld nicht ab, sondern lasse mich langsam in das schwarze Wasser hinab. Laut Josef ist das Baden streng verboten; man will aber bald für die dreißigtausend Einwohner Lötzens eine Kläranlage bauen. Langsam ziehe ich eine Runde in dem Geviert. Bloß nichts runterschlucken. Kalt, aber erträglich. Ein wenig kraulen. Kann durch die Pfähle den Waldrand gegenüber sehen. Blockhütten zwischen den Bäumen; am Üfer werden Boote fertiggemacht. Sind es dreihundert Meter? Eher fünfhundert.

 

Jetzt wird das Wasser schön, wunderbar frisch. Spüre Masuren am ganzen Körper und drehe noch eine langsame Runde. Es ist wie mit der See; muß bei jedem Wetter rein, weil ich sonst das Gefühl habe, nicht dagewesen zu sein. Der grüne Hügel von dem ich gekommen bin, mit unserm Restaurant da oben ist menschenleer. Im Hochsommer war auch nicht viel Betrieb; der Rasen sähe sonst anders aus. Zu dem Angler hat sich ein zweiter gesellt. Interessieren sich aber nicht fürs Becken, sondern für ihre Schnüre draußen. Ist es Einbildung, oder spüre ich ein leichtes Jucken am Körper? Entscheide mich für Einbildung und schwimme weiter. Im schweren Wasser sehe ich grad meine Hände, aber kaum noch die Oberschenkel. Drehe mich dann auf den Rücken und laß den Himmel machen in meiner dunklen Tiefe. Langsam verschwimmt der Unterschied zwischen oben und unten, der Himmel kriegt was Stürzendes. Will sagen, ich stürze ins Blau. Oder wölbt sich ihm das Wasser entgegen? Chaos der Räume und lautlose Wellen. Umdrehen und die Welt wieder richtigstellen. Erst als die nächste Wolke vorbei ist, schwimme ich an die wacklige Eisenleiter und klettere raus. Kann mich kurz abtrocknen und von der Sonne etwas wärmen lassen.

 

Am nächsten Nachmittag ist die Dampferfahrt. Treffen an dem weiten leeren Hafen hinter jener Wiese. Ich meine, der Wiese von gestern mit den Schwänen. Etwa dreißig Leute machen mit. Der Dampfer fährt so gemächlich, daß keiner unter Deck geht. Der leichte Fahrtwind ist zu schwach, um jemanden auszukühlen. Isi sitzt mal mit Frau Antelmann zusammen, dann rede ich mit ihr, mal sitzt sie bei den Schöns, die den Friseurladen bei Detmold haben, dann setze ich mich zu denen.

 

Gestern waren sie in Rhein, dem Ort seiner Herkunft. Erzählen dasselbe, was ich mit Isi erlebt habe. Erst lief der Mann, wie von der Schnur gezogen, dann kam die Erschütterung als Sprachlosigkeit, und dann mußte er sich doch die Hände vors Gesicht halten.

 

Der Dampfer entfaltet große stille Wellenfelder hinter sich wie ein Pfauenrad. Links laufen sie mit Sonnensternen besetzt weit über den See, rechts verschwinden sie nach hundert Metern im Schilf. Manchmal ist hinter dem Schilf nur noch der Himmel, meist aber dichtes grünes Waldgemisch. Obwohl offizielles, damals staatliches Erholungsgebiet, liegt hier noch mehr als in Lötzen eine große Stille über dem Land. "Guck mal, Fischreiher," sagt Herr Riese zu seinem Sohn. Tatsächlich, nicht weit von ihren Konkurrenten, den wenigen Anglern, nisten die hochbeinigen grauen Vögel, einer sitzend, einer stehend, in einer entfernten Schilfbucht. Die Angler sehen übrigens in keiner Weise nach Sportsleuten aus. Sie tragen Arbeitskleidung und haben richtige Zinkeimer für das erhoffte und nötige Mittagessen bei sich.

 

Isi erzählt, bestätigt von Frau Antelmann, daß es keinen Winter gab, in dem nicht Pferdefuhrwerke und vollgeladene LKW's den See überquerten. 30 cm Eisdicke war das Mindeste. Damals Paradies für Eissegler. Die Fischer schlugen sich Löcher hinein. Der alte Lohe und sein Freund badeten darin. Haben aber später vor lauter Rheuma nur noch im Sessel gesessen. Im Schlageterweg lag der Schnee immer mannshoch. Dreißig Grad minus waren üblich; die Kinder hatten Gesichtsschutz an, nur die Augen guckten raus. Den letzten Winter 91/92 war erstmalig der See offengeblieben, hören wir nun auch von Josef. Kalte Heimat ist auch nicht mehr das. Herr Riese, unser Bauer, erzählt von den Fischen, die er hier rausgeholt hat. Können gar nicht groß genug sein.

 

Wunderbare Seeluft. Ab und zu Dissonanz, ein Hauch von verkohlten Bremsen und Chlorkalk dazwischen. Aber kein Schornstein zu sehen; soll wahrscheinlich nicht erst hochgepustet werden, der Dreck. Dann wieder schmaler Kanal mit niedrigen Grasufern, Setzsteine, Bohlen und Faschinen, aber keine Spundwände. Urzustand. Ein Rat aus Königsberg hat ihn um 1760 oder so gebaut, achtzigtausend Taler aus Friedrichs Schatulle dazu, wird extra erwähnt. Birken in weiter langer Reihe, haben immer was von Frühling und Schutzbedürftigkeit, Blätter spielen so leicht.

 

Nikolaiken, auf polnisch Mikolaiken. Der Dampfer fährt durch eine hohe fragile Brücke und treibt langsamer werdend auf Stege und Rasen zu. Wir können noch eine Stunde spazierengehen, müssen uns nur dann am Restaurant zum Essen und zur Weiterfahrt mit dem Bus treffen. Nikolaiken besteht scheinbar nur aus einer Straße und einem Marktplatz. Hinter der Reihe der kleinen Vorkriegshäuser erstrecken sich aber weitläufige Höfe, die von großen grauen Plattenbauten umstanden sind. Wo bleiben die Menschen? Alles ist bewohnt, aber kaum ein Einwohner ist zu sehen. Allerdings gibt es am Platz schon einen richtigen Supermarkt mit Tragekörben und Marlboro, mit Wodka Gorbatschow und Pampers. Und an der Durchgangsstraße zwei Andenkenläden mit Unmengen von Bernstein. Alles echt. Echt wahr.

 

In wechselnden Grüppchen pilgern wir herum. Aufwärts geht es zur Kirche. Seitwärts tiefes Grün hinter versinkenden Zäunen. Niedrige Häuser, alt wie die Zeit mit faulenden Türen. Bewohnt aber vergessen. Die Kirche selbst ist innen renoviert. Ein harmonischer Raum. Wir erfahren von den gewaltigen Kosten. Man könne auch das Gemeindehaus sehen. Ich verzichte, möchte nochmal zum Hafen runter. Isi will sich lieber irgendwo hinsetzen. Ich gehe die kleine Uferpromenade an den hölzernen Vorgartenzäunen entlang. Eine Katze macht sich auf den Steinen an einem dicken Aal zu schaffen. Die Sonne scheint auf zwei Zeiten nieder. Hell auf Vergangenheit und Gegenwart. Hell auf die vor hundert Jahren gesetzten Steine, und hell auf den heute vergifteten Aal. Hier sind Rasen, Blumen und ein neugestrichener Zaun, wie in Blue Velvet. Aber die Zeit rückt und rührt sich nicht. Auch nicht durch die Plattentektonik dahinten, die zu schlafen scheint. Wo sind die Menschen? Nikolaiken wurde Mikolaiken, die Einwohnerzahl hat sich verdreifacht, der Geist langsam verflüchtigt, das NEUE kam als grauer Stein und sieht älter aus als das Alte.

 

Auf dem Weg zum Restaurant höre ich wieder die Stimme von Frau Antelmann hinter mir. Sie sagt zu Josef, "daß Sie sich aber bitte erkundigen, Sie haben mich schon zweimal fehlgeleitet". Josef erklärt umständlich, daß er Reiseleiter ist und kein Stadtführer. Ich drehe mich um und sage zu ihr, es wäre nicht ganz unproblematisch, sich nach der Festung zu erkundigen, die Leute wären da sehr zurückhaltend. Nicht nur zurückhaltend, es gäbe einen beträchtlichen Haß, sagt Josef. Irgendwie schnallt sies nicht. Sonst immer freundlich und hilfsbereit. Krieg lebt eben von der Selbstverständlichkeit.

 

Überhaupt unsere Mütter. Alles reingefressen. Darüber spricht man nicht. Und dann um sich geschlagen, Trunk oder Selbstmordversuche - plötzlich und unerwartet. Das Schweigen der Lämmer düngte die Waffen. Unfaßbar, was alles hingenommen wurde. Die Feldpostbriefe mit den schwarzen Rändern. Wer war der gefürchtetste Mann im zweiten Weltkrieg? Der Briefträger.

 

Ich gehe wieder ein Stück mit Josef. Er hat einen Bruder in Stettin, der hat dort ne Bäckerei und der hat in den sechziger Jahren einmal in sein Schaufenster das deutsche Wort "Eis" geschrieben. Der Skandal war unglaublich. Beschimpfungen, Verhöre, Schikanen; sogar in der Zeitung hatte gestanden, daß hier einer ein deutsches Wort verwandte.

 

Es wird sehr schön gebratener Zander seviert. Gutes Essen und jeder kommt dran. Mit nur drei Frauen. Habe mal einen grauen realistischen DDR-Film gesehen; wie eine Frau sich emanzipiert. Arbeit in der Bügelei unter Dampf, Rost und Neon. Wirklich geschuftet wurde in Frauenberufen mit der geringen Qualifikation. Genau abgemessene Pausen, schwerstes Gerät, alte Technik, keine Ersatzteile und immer neue Wäschehaufen. Nix mit Warten auf Matterjal.

 

Die Rückfahrt geht mit dem Bus in großem Bogen über Heilige Linde. In Rastenburg will keiner anhalten, trotz Rückfrage der Reiseleiterin. Aber sie zählt sorgfältig auf, wer von der Naziprominenz dagewesen ist, was Himmler, was Ribbentrop gemacht hat, was Göring gebaut hat, sone Art genauer Hofberichterstattung.

 

Heilige Linde ist eigentlich nur eine Kirche hinter einer weitgestreckten, hochgeschmiedeten Gitteranlage. Aber eine der schönsten in Gelb, Weiß und Gold. So steht sie in einer waldumstandenen Talebene, deren Seiten vollgestellt sind mit Verkaufsbuden. Außen Vierzehnheiligen und innen südliche Finsternis. Hier werden die Touristen ausgeladen zum Melken. Bernstein, Andenken und gestickte Tücher sind die Renner, zumindest was das Angebot betrifft. Frauen in Schwarz halten die Tischdecken ausgebreitet wie Engelsflügel. Die Stickerei ist allerdings schon sehr sparsam. Dagegen hatte Omi in Geesthacht wahre Wunderwerke gemacht, aber nur zum Verschenken. Wurden auch folgerichtig ohne jeden Dank entgegengenommen. Hat sie aber nur mir erzählt, nicht den Empfängern.

 

Ein kluger Pastor - es ist eine Jesuitenkirche - hält in gutem Deutsch einen kleinen Vortrag vor dem Orgelkonzert. Über die Kirche, die Deutsche und Polen gemeinsam erbaut haben. Die Kosten der Renovierung und Instandhaltung. Die Mittel, die Mittel, die Mittel. Introitus mit Ave Maria. Isi meint, sie kennt die Brüder, muß trotzdem weinen. Ich denke, die habens doch faustdick... Da geht nicht nur die Musik los, sondern auf einmal fängt die ganze Orgel an zu läuten, zu klingeln und zu rasseln. Posaunenengel drehen sich, Heilige nicken, Glöckchenbäume rotieren, Flötengruppen schwingen aus wie Ballerinabeine. Bei Präludium und Fuge in H wird der Spuk abgestellt. Ein Choral von Boellmann, dann Schubert und zum Schluß wieder volle Pulle; das Waberpedal durchrührt unsere Seele. Wahrscheinlich mehr Umsatz bei SJ, als in den Buden. Ich tu ihm hunderttausend ins Körbchen, das sind zehn Mark gerade. So eine Art Räuber Jaromir verkauft mir für drei Mark draußen noch einen Mitschnitt. Stereo.

 

Anlaß für den Kirchenbau war eine Marienerscheinung. Ein zum Tode verurteilter erhielt von Maria das Schnitzwerkzeug, mit dem er über Nacht eine Statue fertigte. Sie war so gelungen, daß er freigelassen wurde. Ob alle Verurteilten in Polen von da ab um Schnitzwerkzeug gebetet haben? Vielleicht nur die Schnitzer. Schließlich war die Anzahl der Begnadigungen, bezogen auf die Gesamtexekutionen, von glaubenserschütternder Winzigkeit, während sie, bezogen auf die Schnitzer-Exekutionen, dem Wunder noch einigen Halt bot.

 

Zwischen den Buden auch fliegende Händler. Sehen sofort, wer aus Deutschland ist und halten die richtigen Bücher hoch. Und wieder der ganze Bernstein. Riese meint, sie hätten jetzt ein Verfahren, die kleinen Steine auf- oder anzulösen und dann unter Druck zu Großen zu vereinigen. Teilweise sind sie derart rein und gleichförmig, auch bei langen Ketten, daß ich Gießharz, natürlich reines, vermute.

 

Am letzten Tag wieder in Eugenias Kawiernia. Rauchen ist hier noch im Stande der Unschuld. Besonders bei den jungen Frauen. Alle sind gut, aber nicht zu auffällig geschminkt; etwa so, wie Mannequins im Privatleben. Und wozu? Nicht, daß die jungen Männer nicht attraktiv wären. Haben sogar sehr gute Haltung; viele wie Prinzen im Wartestand, bis auf die mit den Bierdosen. Aber am Ende für die Frauen bloß Einkaufstasche und Kinderwagen, möglichst noch in den Wohndolomiten. Und der Mann vom Prinzen zum Säufer geworden. Scheint nicht so selten zu sein. Daß geprügelt wird, sieht man nicht ohne weiteres, aber die Frauen wirken oft überanstrengt. Trotzdem sehr auf den Mann und das Heiraten gepolt. Könnens nicht erwarten.

 

Isi hat Eugenia einen Blumenstrauß mitgebracht. Zu Tränen gerührt. Der Sohn steht sofort auf, geht in den Salon, nimmt ein Bild von der Wand und schenkt es Isi. Ungefähr DIN A 5 hinter Glas, mit schönem Holzrahmen, eine Landschaft: Waldsee mit Steg, metallglänzend in Gold, Silber, Grün und Braun.

 

Abschied von Lötzen. Der Bus kurvt und steigt wieder durch das bewegte Land. Ganz allmählich wird es flacher. Soll man wiederkommen? Zu früh gefragt, meint Isi. Ich wills mir offenhalten, kann Orte immer schwer verlassen.

 

Nach kurzem Halt an dem schönen Waldhotel in Allenstein kommt noch eine Übernachtung in Schneidemühl. In dieser Stadt blieb kein Stein auf dem anderen. Sie besteht nur aus Plattentektonik. Nicht so trostlos, wie in den Vorstädten, aber es gibt eben nur die langen Zeilen der Neubauten. Keine Altstadt, keine Winkel, kein Halt, der Wind pfeift durch die Straßen. Hier soll sich damals die SS verbissen haben, worauf der Tommy eine Jahresproduktion an Bomben ablud. Die Ladenzeilen und die wenigen Cafés sind alle unten in den 5-stöckigen Langbauten untergebracht. Weiß nicht, ob es überall so ist, aber im sogenannten Zentrum, wo wir herumschlendern, sind die Regale voll mit Westwaren. Bahlsenkeks, Alpenschokolade, Bordeauxweine, Sony-Radios, Weißer Riese, Küppersbusch, Chanel. Feierabendverkehr, lebhaft bis dicht; alle sitzen in den Autos. Die Magistrale ist mindestens hundertfünfzig Meter breit. In den Läden das Publikum eilig, aber dünn.

 

Isi will schlafen; ich gehe ein paar Blöcke weiter. Die Höfe werden zu breiten Fußgängerzonen, Galerien lockern die Zeilen auf, Lokale warten. Architektonisch hat man einiges Schmalz verbraten, aber ein Marktplatz oder eine Altstadt sind so nicht zu ersetzen. Weitläufigkeit, die nicht zu füllen ist. Fast versteckt finde ich eine frischgeweißte mächtige Barockkirche. Sie steht zwischen Fassaden mit bogenförmigen Durchfahrten, also einem gestalteten, vielleicht besseren Viertel.

 

Möchte jetzt aufs Zimmer. Wie ein Leuchtturm ist ständig das riesige internationale Hotel zu sehen. Ist wohl das einzige und daher ausgebucht. Jedenfalls dauernd Betrieb und belagerte Rezeption. Die Propyläen hatten was Bahnhofsmäßiges durch ihre Ausdehnung und auch durch den ununterbrochenen Verkehr von Gruppen, Familien und Einzelpersonen. Nicht gerade das Zentrum Europas, aber doch irgendwie seine Drehscheibe. Nur, die Delegationen sind jetzt durch Reisegruppen ersetzt, die Genossen durch Investoren oder Vermeintliche, die Sekretärinnen durch Hostessen, die Geheimen durch Vertraute. Ihre Vielfalt mag noch größer geworden sein. Neben Kirgisen und Tschuktschen, Kaukasiern und Finnen eilen, schlendern oder warten Marokkaner, Iren, Brasilianer, Angolaner, Franzosen und Türken.

 

Obwohl hier viel größere und luxuriösere Hotelbars locken als in Bromberg, fahre ich in den Zehnten hinauf zu Isi. Das Zimmer ist angenehm lang geschnitten, nicht jeder Quadratzentimeter genutzt, nett zu bewohnen, so daß wir den Abend teils miteinander, teils, was mich betrifft, mit fernsehen, verbringen. Isi liest. Beim Blick aus dem Fenster wird mir deutlich, daß unsere Betten nur einige Handbreit vom Abgrund stehen, durch nichts als eine dünne Wand von ihm getrennt. Um das Gebäude herum ist die Stadt der Winde, der Weitläufigkeit. Rasenflächen, Asphalt, ungeheure Fliesenmengen, Parkplätze, und dann erst die offenen Magistralen, Straßen und Prospekte. Die Lampen gehen an unterm verbleichenden Himmel. Was reden wir von Ninive?

 

Nun, in Ninive mochte am Abend eines arbeitsreichen Tages jeder seinem Ziel ein wenig näher gekommen sein. Der König hatte ein Stück seines Palastes wachsen sehen, der Hohepriester hatte den Schatz der Götter gemehrt, der Wesir einen neuen Kanal begonnen, der Bauer sein Feld gejätet, der Schreiber neue Tafeln einsortiert... - so statisch die Welt auch erscheinen mochte, jeder hatte sie und vielleicht auch sich ein wenig im Sinne seiner Absichten verändert.

 

Anders heute in Schneidemühl, Berlin und Paris. Da findet in Form des Berufsverkehrs eine Veranstaltung statt, die jeden Tag, vom Energieverbrauch her gesehen, die Kursker Panzerschlacht oder den Bau der Palastanlage in den Schatten stellt. Nur hat außer den wenigen Nutznießern keiner danach etwas gewonnen. Am nächsten Tag und jeden weiteren Tag derselbe Rush. Jeder hofft, seinen Status zu sichern, jeder klammert verzweifelt, um nicht von der immer schneller rotierenden Scheibe des Wirschaftslebens geworfen zu werden. Die Nervosität nimmt zu, die Unsicherheit wächst und alle wissen, aber keiner glaubt, daß jeden Tag das Leben eine Schlacht verliert.

 

Das passende Präludium für eine Durchfahrt durch Schwelm, die letzte größere Station vor der Grenze. Zunächst sieht man nur, daß die Fassaden schwärzer sind, als in jeder anderen Stadt. Die Gesichter der Menschen sind nicht ganz so dunkel, sondern von jenem schönen bläulich-violetten Grau, dem Paynse seinen Namen gab. Der Fußgängerverkehr ist deutlich dichter; es stehen mehr Menschen an den Haltestellen und längere Schlangen an den Läden. Dominierend ist ein beißender Gestank, wie von Chlor- und Arsenverbindungen, der uns bereits im fahrenden Bus zum Husten reizt. Da seine Quelle sich im Westen der Stadt befindet, dauert es eine ganze Weile, bis wir sie lokalisieren. Es handelt sich um die Zellulosefabrik, die hinter einer fast kilometerlangen Mauer entlang der Straße arbeitet.

 

Aus Leibeskräften, muß man sagen, denn die hohen und die langen Hallen sind innen erleuchtet. Tiefschwarze Wände wechseln schon morgens mit grellen Scheinwerfern auf hohen Masten, Gruppen von mannsdicken Rohren werden über lange Brücken geführt und winden sich zu unübersichtlichen Aggregaten, Stahlgerüste tragen Seile, an denen schwere Loren baumeln und alles zusammen dampft, raucht, blakt und qualmt. Ob hohe Schornsteine, verdeckte Auslässe, Rohrenden, Ventile oder nur offene Fenster - aus jeder Öffnung quillt jede Art und Farbe gas- und staubförmigen Abfalls. In Schwarz, Weiß und allen Grautönen wachsen riesige Rauchbäume in den Himmel. Das wahre Aroma aber geben offenbar die kleineren Fahnen in dunkelrot, blutgelb und violett. Kaum einer der schattenhaften Passanten ist imstande, dieses Schauspiel zu genießen. Möglicherweise hat er es schon zu sehr verinnerlicht, zum Beispiel in den Bronchien.

 

Aber versuch das Ding mal stillzulegen. Ganze Stadt voll Arbeitsloser und alle Lungengeschichten umsonst. Kein Lohn der Angst.

 

Unmittelbar hinter der Stadt: wieder Wälder und Felder; unversehrt, wahrscheinlich, weil sie in der Hauptwindrichtung liegen. Sehr große Flächen, einheitlich bewirtschaftet. Weit geschwungenes Land, lange Dünung. Schlafen.

 

Als ich aufwache, hält der Bus. Wir stehen in einer unabsehbaren Schlange von Fahrzeugen, offenbar vor der Grenze. Die Straße verläuft hier auf einem Damm, der soweit man sehen kann, auf beiden Seiten mit schreiend bunten Buden vollgestellt ist. Kaffee, Zigaretten, Imbiss, Andenken. Nicht genug, überall stehen noch die fliegenden Händler mit Bündeln von Zigarettenstangen rum. Sie sparen DM 100. Sprechen jeden an auf ihr günstiges Angebot. Der Nächste hats schon etwas billiger. Halten Nichtraucher für sone Art Zombie, keine Realität.

 

Isi ist auch ausgestiegen. Habe sie auf einmal im Arm, ganz weich. "Wolln wir ein Kaffee trinken?" Dann ist ihr Mund da. Die Wange. Nichts sagen, durch die Haut sprechen mit geschlossenen Augen. Beinah in Vergessenheit geraten; muß erst wieder auftauen. Eng aneinander gehen wir an den Buden lang. Neben den Bussen her, durch Trauben von Touristen, bis wir vor einer kalten weißen Kaffeebude stehen. "Willst Du da rein?" "Aber ja, ich brauch meine Droge," sagt sie, "ich geb auch einen aus." Frau ist doch stärker.

 

Wie immer bisher, ist auch hier die Entsorgung eingespart worden. Keine Toiletten. Hinter den Buden alles voll von Exkrementen und Papierresten, "gebrandmarkt an der Stirne" wie der Dichter sagt. Der Damm geht steil runter, Kletterei zum Pinkeln. Ich laufe noch ein Stück, um die Knochen etwas zu bewegen nach der Sitzerei. Hinter Buschwerk kann ich mich fast unsichtbar machen. Sehr langsam, sehr weit steigt das Feld nach Norden an. Frisch gepflügt und leer bis zum Horizont. Gleichnis für die hierarchiebildenden Kräfte: Leere und Gedränge dicht beieinander. Ein einziger Bauer hat mit Öl Traktor und Kunstdünger getrieben, wir essen und warten. Jahrmillionenalte Energie verpufft in drei Generationen, nimmt uns die Sorge um Grundbedürfnisse. Wir suchen Arbeit oder hetzen der Organisation nach. Philosophie des gelben Strahls. Erleichtert.

 

Die eigentliche Grenze passieren wir ohne jede Kontrolle. Die Autobahn nach Berlich besteht teils aus Vorkriegsbeton, teils aus Baustellen, die Umgebung wechselt zwischen naturbelassen und kahlgeschlagen. Aus irgendeinem Grund, vielleicht wegen eines guten Trinkgeldes für ersparten Umweg, müssen wir nach Marzahn rein. Marzahn ist die Epiphanie des modernen Lebens, die absolute Gewalttat. Nicht für den Yuppie, aber für den Vorläufigen, für den, der damals Komfort und Moderne suchte und nun die Intensivhaltung fand. Hier aber nicht in masurischer Stille, sondern bis zum Horizont pulsierend von den Ängsten, Apathien und Aggressionen der Überflüssigen.

 

Ich hangele mich nochmal durch den Bus nach vorn, will mich von der kleinen blonden Frau mit der rührenden Sprachhemmung verabschieden. Rührend, weil sie Stärke genug hatte, den Fehler überhaupt nicht zu beachten. Sie hatte mich bei Josephs Inschutznahme damals unterstützt. "Wie finden Sie das hier?" frage ich sie. Sie schüttelt nur den Kopf. "Kann ich ga-arnicht sagen," stammelt sie, mich gerade ansehend, "aber vielleicht... bevor man überhauptnichts hat..? Dann müßte man - sich eben einrichten. Damals wars auch... nichts Schlimmes, man fühlte sich... be-schützt."

 

Helmstedt passieren wir schon in tiefer Nacht ohne anzuhalten. Eine Stunde später fahren wir auf dem vor acht Tagen von uns verlassenen Busbahnhof ein. Wieder die Nacht, die Autobahn und der knirschende Sand. Für einen Augenblick ist die Zeit zurückgekehrt. War es nicht eben gerade, daß wir auf die Abfahrt warteten? Oder ist es hundert Jahre her? Aber wir sind nicht dieselben, wir haben ganz andere Zeitwunder mitgebracht. Wir sind nicht dieselben, wir sind infiziert von Masuren.