Pompeji
Sie war da draußen und blickte still durch das ovale Fenster herein. Ich saß mit vielen in der luxuriösen Röhre und sah meinerseits etwas besorgt schräg nach vorn. Dort, halbwegs in Flug- oder Fahrtrichtung drohten die finsteren Flanken des Vulkans. “Läuft das immer so?” fragte ich meinen Nebenmann und deutete mit dem Kopf dahin. “Nun, das Ende,” meinte er wie beiläufig “ja schon, jedenfalls keine Ausnahmen bekannt.” Ich entschloß mich, die rätselhafte Antwort nicht zu hinterfragen. Nichtsdestotrotz war es in der Kabine hell und freundlich. Große Sonnenflecken, verursacht durch das tiefstehende aber starke Gestirn, wanderten langsam auf Gesichtern und Deckenverkleidungen herum. Auch draußen zogen jetzt die weißen, freundlichen Kulissen, die schlanken Säulengruppen, die Wände und Mosaiken und die frischen Grabungshügel vorbei. Wir jagten nur einige Meter über dem Grund dahin und wurden im Unklaren gelassen bezüglich der Reisephase - war es Start oder Landung? Nur IHR Gesicht blieb weiterhin reglos vor dem Fenster, das etwas nach hinten lag. Kein Fahrtwind, aber eine schwere dunkle Luft bewegte langsam ihr Haar. “Wollte dich verabschieden,” murmelte sie. “Was meinst du damit?” fragte ich mit einem Hauch von Panik in der Stimme. “Ich hab dir geschrieben,” sagte sie ohne Mundbewegung, “...alles Gute....” der Rest war unhörbar. Ich drehte mich nicht mehr nach ihr um, sondern sah auf die steilen dunkelgrauen Abhänge voraus, die sich immer schneller näherten.
4.9.07 Der Felsplanet
In dieser Welt gab es keinen Grashalm und keine Mücke, nur Felswände, die aus dem Meer ragten. Nicht einmal Wasser mußte es sein, was da ruhig rollte und strömte; vielleicht war auch Methan oder Brom in dieser ewigen Dämmerung kondensiert. "Wir sollten uns einrichten; wer weiß, ob es dunkel wird," sagte sie. Nach einer Weile setzte sie "...irgendwann" hinzu. Sie trug bereits ein paar Steine hin und her, "nimm du die eckigen da." Ich sah nicht ganz, wo es hinaus wollte, trug aber auch und legte vorsichtig ab. "Es hängt nur von uns ab," sagte ich, ihre Worte von früher wiederholend, "...nur von uns, wie wir uns fühlen. Wir machen es uns gemütlich....irgendwie," echote ich. Das Halbdunkel veränderte sich kaum; nur zwei grünliche Scheiben, jeweils ein Drittel des irdischen Mondes messend, trieben ihr langsames Spiel. Sterne waren nicht zu sehen. Während sie arbeitete, versuchte ich die Himmelserscheinungen zu deuten. Waren es Trabanten? War ihre Bewegung periodisch? Oder waren wir in eine Parallelwelt verschlagen, wo bereits andere Gesetze galten? Da die unermeßlichen Felswände nur einen kleinen Teil des Himmels freiließen, wurde ich aus den Bewegungen der Monde nicht schlau. "Das braucht seine Zeit," murmelte ich. "Was meinst Du?" "Ach nichts, nein, nichts besonderes.... vielleicht sollte ich mal das Ufer erkunden." "Das hast Du schon damals gesagt." "Ach, es bringt wohl auch nichts," antwortete ich und setzte mich auf einen der Brocken. Schon einige Monate lang trug ich eine Beobachtung mit mir herum, die ich aber wegen ihrer Undeutlichkeit nicht zu erwähnen wagte. Einige Meter unter dem Spiegel der grünlichen Flüssigkeit schien sich ein längerer rechteckiger Tisch zu befinden, an dem reglose Männer saßen. Melone zwar und Nadelstreifen, aber ein wenig abgerissen, wie Honoratioren nach der Vertreibung oder Goldsucher. Immer wenn ich Genaueres sehen wollte, kam dieser schwache Nebelwind auf und kräuselte den kalten Spiegel.
Ständige Begleitung (2006)
Dort wo unser Durst nach Dauer für immer gestillt wird, in dem blauen heiligen schwerkraftlosen Nirgendwo, war die Sache folgendermaßen geregelt: es umgaben und begleiteten uns die Frauen, die uns unten geliebt oder geduldet hatten. Keine Heerscharen, nein, sondern so eine kleine Schar zwischen einem halben und einem ganzen Dutzend, bei schönen Männern mehr. Natürlich mußten sie für diese Zwecke - um allen ihrerseits Geliebten Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen - geklont und vervielfältigt werden. Jeder sollte seine Suite haben.
Damit aus einer irdischen Affäre, wie offenbar geplant, eine ständige himmlische Begleitung wurde, hätte die Leitung auch die Männer klonen können. Es handelte sich wohl um einen patriarchalischen Himmel, wo von dieser Variante Abstand genommen wurde, weil man den Frauen die chefarztmäßige Suite nicht gönnte. Die company derselben war aber sehr wichtig, weil ungeheure Entfernungen zwischen den kleinen Gruppen lagen. Wir sprachen von diesen anderen, die kaum sichtbar waren, beruhigend, als stünde ihr Dasein nicht im Zweifel.
Man hatte uns aber zum Glück einen newtonschen Raum spendiert, damit wir, aus kleinen Verhältnissen gebürtig, nicht mit den relativistischen Korrekturen belastet würden. Immerhin hatte der Kalfaktor in den kaum bewölkten Weiten mir eine Krone, “die Krone der Liebe,” wie er mit großer Geste kommentierte, auf den Kopf gedrückt. Ein Behagen wollte sich aber nicht einstellen. Man hatte, vielleicht durch weltlichen Einfluß erzwungen, den Frauen einen Ausgleich geschaffen. Irritiert und im Aufblicken die Frauen messend, gab schließlich eine wie zufällig vorbeischwebende Spiegelung schreckliche Gewißheit: meine Körpergröße betrug weniger als sechzig Zentimeter.
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Vom 21.07.69 (1)
Die große Stadt erschien mir, als hätte ich sie hundert Jahre vor Eintritt der Gegenwart aufgesucht. Kaum aus den Kirchenschiffen des Bahnhofs getreten, befand ich mich auf der hellen buntbevölkerten Hauptstraße. Nicht daß die Buntheit unruhig gewesen wäre - im Gegenteil, es war viel Platz und Gemächlichkeit. Wenn Kutschen hielten und ihre Passagiere gepäckreich ein- und ausstiegen, fuhren Autos um sie herum und umgekehrt. Die abwechslungsreichen, schönverzierten Fassadenreihen wurden noch nicht von Hochhäusern unterbrochen und hatten meist eine warme ockergelbe Färbung. Die Straße war aber an vielen Stellen aufgerissen; aus den Löchern schienen schwarze Haufen aufzusteigen. Irgend etwas war langsam am Hervorbrechen und -quellen. Die Häuser wuchsen in zweckmäßigem Grau und der Verkehr nahm ununterbrochen zu. Lange schwarze Riesenwürmer wanden sich heraus; Züge der elektrischen Vorortbahnen, die unter den Gartendächern hielten, wurden für das Kommende bereitgestellt. Gerade ein halbes Jahrhundert verging und es war da. Obwohl ein Onkel, dem ich geschrieben, mir dringend und ängstlich von der Reise abgeraten hatte, beschloß ich, ihn aufzusuchen.
Carli hatte nämlich nach dem Krieg Pakete voller Kostbarkeiten geschickt. Milchpulver, Schokolade, Getrocknetes, so daß wir ihn für eine Art Millionär hielten. Aus unsern Dankesbriefen ging das auch hervor, worauf er Angst bekam, uns die kontrastierende Wirklichkeit zu zeigen.
Ich saß ihm dann doch im neunundfünfzigsten Stockwerk gegenüber. An dem Rahmen des winzigen Küchenfensters war die Farbe abgeplatzt und seine graue steife Gardine wurde von zwei Blechröhrchen gespannt. Dahinter liefen Tropfen das beschlagene Glas hinunter. In der Tiefe brodelten, soweit das Auge reichte, unter dem kalten durchscheinenden Dunst der Gegenwart Autos und Menschen. Unten war leises Grauen, zum Horizont hin bogen sich Spielzeugschluchten. Die Abendsonne gab dem Dunst zwar einen schwefligen Ton, doch die einzelnen Türme, die daraus hervorragten, waren schwarz wie Karamors Schloß - gemäß der Prophezeiung die Gegenwart darstellend. Wir schwiegen lange.
Ich fragte mich, ob wir selber so unheimlich wohnten. Denn weit unter uns, genau da, wo jetzt der nicht endenwollende Rushhourkrieg tobte, war vor wenigen Generationen noch weithin ein brechender Zweig durch den tropfenden Wald zu hören. Aber keine Schritte, still ging der Jäger auf dem weichen Humus, der nun unter hartem schwarzem Asphalt verschwunden war. Ich strich mit der Hand über das geborstene hölzerne Fensterbrett. Wald? Carli hatte schweigend zwei Teegläser aufgestellt und ein Toastpaket aufgerissen. Er legte die Schnitten auf das alte Wachstuch. Ich erkannte es als dasjenige, das Oma benutzt hatte, um darauf die Bratäpfel kühlen zu lassen. "Bitte bedien Dich," sagte er schwach.
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vom Sept. 69 (2)
Wo das Schilf anfing, das weit in das flache Meer hineinreichte, stand ein Bau wie ein ausgedehntes altes Kurhaus. Wir zögerten und der Himmel schwieg in weichem Grau. Unsere freudige Erwartung, die sich einst in Rufen und Jauchzen Luft gemacht hatte, war einer gewissen Nachdenklichkeit gewichen. Auch die Uhren gingen einfach nicht weiter; es nützte uns nichts, daß wir Geld hatten. Wir zeigten es vor, aber die Angestellten, auch die Verkäufer, bewegten sich so langsam wie gefroren. Ja, die ganze Umgebung schien einem anderen Zeitregiment zu unterliegen. Die Welt war wie gelähmt; nur wir rissen uns los.
An hohen Fenstern saßen in Zeitlupe vornehme Kaffeedamen, Immortellen, und der Empfangschef blickte zeitlos böse, als wir an ihm vorbeistürmten. Es wird immer schlimmer, sagte er langsam, was soll das noch werden, wenn einfach nichts mehr vergeht? Sie vergeht ja nicht mehr, sagten wir. Da, sehen Sie, ich brauche mich nur einmal umzudrehen und die Zeit ist Vergangenheit; sie ist nicht mehr da. Wo ist denn hier die Kegelbahn, rief einer von uns, Dr. Breitung glaube ich. Wir führen keine Kegelbahn, näselte der Chef hochadlig, wie aus einem Doré herabgestiegen. Was, ich denk, Sie sind ein führendes Haus, schrie Dr. Breitung. Wir warfen Spiegeltüren auf, deren Schwingungen mit leisem Rauschen gedämpft wurden und ließen den Empfangschef weit hinter uns. Was glauben Sie denn, wer Sie sind, hörten wir und dann vergehend, noch bin ich da, ich komme! Perspektivisch schrumpfte er zum Punkt. Er retirierte, Opfer der Unendlichkeit, dahin wo Parallele sich schneiden.
Aber auch wir wurden dezimiert. Nur noch zu zweit gingen wir schnellen Schrittes durch die weiten feuchtwarmen Kellerräume. Der Boden bestand aus rauhem Backstein. Holzgatter trennten die terrassenförmig angeordneten Bereiche, von denen einige im feuchtwarmen Dunkel lagen. Freundlich grüßten wir die weißgekleideten Frauen, freundlich grüßten sie zurück. Haben Sie den Chef gesehen? fragten wir. Singend warfen sie große weiße Tücher über liegende Gestalten, Patienten wahrscheinlich oder Wellnesskunden, vielleicht noch lebendig.
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(3)
Nach einem langen Weg aufwärts durch immer schmaler gewordene Gänge und verbotene aber unverschlossene Eisentüren erreichte ich das leere Appartement. Seit Stunden war mir kein Mensch mehr begegnet. In der anhaltenden Abenddämmerung - hatte es je etwas anderes hier gegeben? - blickte ich auf ein weites stilles Carrée. Der Rasen hatte der Umfang von mehreren Fußballfeldern und war von dunklen Gebäuden umgeben. Zahllose unerleuchtete Fenster blickten blicklos und schwarz. Ihr Blick war weder gut noch böse aber von unsagbarer Stille und Einsamkeit. Das war das Ende.
In dem schmalen blaugestrichenen Bad lief nur kaltes Wasser. Ich zog die Vorhänge zu, drehte den Hahn auf, um die Wanne zu füllen und ging hinaus. In der Hoffnung, daß sich etwas rühren würde, öffnete ich die Tür zum Treppenhaus und horchte lange. Außer dem fernen Wasserhahn war nichts und niemand zu hören zwischen kahlen Wänden und schwarzbraun gestrichenen Läufen. Das ganze Viertel schien unbewohnt zu sein. Plötzlich schoß es mir wie Eiswasser durch die Adern: ich hatte den Kleinen vergessen. Hatte es noch Sinn....? Wenn ich aufsprang, die Stufen hinauf, rannte wie um mein Leben, dann könnte... Aber ich stand. Um keinen Preis wollte ich sehen, wie die Augen aus dem Gesichtchen aufwärts blickten durch das klare Wasser. Durch knappe Wellen schienen sie leicht bewegt auf eine Art, als wäre noch richtiges Leben in ihnen.
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Vom Ende 1969 (4)
Seitdem Unerklärliches und Beängstigendes mit meinem Körper geschieht, tauchen häufiger die Bilder jener Wohnung auf, in der ich die längste Zeit meines Lebens verbracht hatte. Eine Unzahl von Monden, vielleicht sogar 20 Jahre ist es her, daß ich mich in dem Eckzimmer im Hochparterre aufhielt. Durch die Fliederbüsche des Vorgartens konnte man sehen, wie die tiefbeschattete Riastraße in die breite, aber auch nur mäßig frequentierte Dönhoffstraße mündete. An heißen Tagen wurden dort die brüchigen Asphaltstreifen weich. Heute wollte der Tag nicht kommen. Die Nacht blieb einfach da; sie war dunkel aber durchsichtig.
Von gewaltigen Lindenkronen verdeckt, hundert Meter schrägab lag der Laden, in dem der alte Sitzlack waltete, angetan mit einer goldenen Uhrkette. Nach dem Tode seiner Frau verkaufte er dort allein Milch, Malzbier, Erbsen und Bonbons. "Drei Meter Magermilch," sagte er wenn er den Meßbecher in die Wanne tauchte. Es war noch die Altpreußische Handelskammerausbildung, die ihm solch virtuos-humoristischen Umgang mit den Maßeinheiten erlaubte. Hatte er alles zugewogen, leckte er den giftigen blaublutenden Kopierstift, schlug umständlich die nächste Seite eines Schreibblocks um und schrieb die einzelnen Posten auf. Einen starken Strich zog er drunter und die Summe nochmal mit Druck. Auch er hatte sich in der Zeit vertan und bediente lautlos vor sich hinrechnend die wenigen nächtlich-schemenhaften Kunden. Die hohe, nie gesehene schlimmbraune Decke hatte sich dem Weltall geöffnet und dessen Finsternis zog in sein Herz und nahm ihm allmählich die Kraft. Obwohl wir uns hüteten nach oben zu sehen, konnten meine ausgesuchten Bemerkungen über das Wetter ihn nicht aufheitern.
Einige Wochen später ging der Laden in die Hände der staatlichen Handelsgesellschaft über und der Inhaber, dessen feldherrenmäßiges Auftreten immer weinerlicher geworden war, folgte seine Frau. Danach waren auch die Tage wieder wahrnehmbar. Trotz blendender Sonne behielt der Laden unter den Linden eine erinnerungsschwere, im fernen Infrarot strahlende Düsternis. Es war auch nicht mehr unsere Sonne, es war ein weißer Stern der B- oder A-Klasse, der die Straße in gefährliches Kaltlicht tauchte. Schließlich war das Stück zwischen Laden und Wohnzimmer damals mein Weltall.
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(5)
Auch in der Wohnung herrschte seit Stunden die Mitternacht. Ein oder zwei undeutliche Gäste waren dabei, als wir die merkwürdige Entdeckung untersuchten. Beim Fenster hatte sich die Tapete ins Zimmer gebeult. Mein zweiter Bruder, der alternierend die Gestalt mit dem Dritten tauschte, zog auf Verlangen unserer Mutter seinen Anzug an.
Aber das Licht? Es brannte in beiden Wohnungen - in der Neuen, die wir bezahlen mußten, um sie zu halten und in der Alten, die wir nicht verlassen konnten. Es brannte gelblich und mit mäßiger Stärke, aber es erfüllte die Räume so völlig, daß die Dinge keine Schatten warfen. Vielleicht auch, weil überall die Möbel fehlten. Vom Kachelofen aus hatte ich mich in das oberste Stockwerk unseres Bettgestells geschoben und blickte von dieser schwankenden Höhe hinab in das Zimmer, das zu beiden Heimen gehörte.
Die Mutter kam in die Tür. Sie hatte den Schmuck angelegt, rührte aber noch in einer Schale mit Mayonnaise. Sie beugte sich zur Seite, um in das Kästchen zu sehen. Sämtliche Küchenborde bogen sich vermutlich unter der Unmenge von kalten Platten und Salaten. Doch kein Gast erschien. Ein langes Warten begann. Ab und an zeigte sich der Baron. Sein fragendes Gesicht erweckte den Eindruck, als hätte überhaupt niemand, nicht einmal er als Gastgeber, von einer bevorstehenden Feier bei uns Kenntnis erhalten.
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(6) vom 15.9.70
Die Formalitäten der Abfertigung für unsere kleine Familie waren bald erledigt. Ich hielt die Abreise aber trotzdem nicht für endgültig beschlossen und ging hinaus ans Meer. Dort hatte die Kurverwaltung einige Attraktionen vorbereitet, die abreisewillige Gäste zum Bleiben verleiten sollten. Ich entfernte mich unerlaubt immer weiter und weiter. Es vergingen Wochen, bis ich das Einerlei von Dunst und grauem Schlamm durchschritten hatte. Dann stand ich auf einem Hügel und suchte mit den Augen das Watt ab. Der Meeresboden war bewegter geworden und in seinen Vertiefungen strömte kraftvoll das Salzwasser. Das Meer selbst aber war immer noch nicht zu sehen.
In alten farblosen Kostümen standen sich die Kontrahenten gegenüber, der Kräftigere etwas tiefer im Schlick mit dem Gesicht zu mir. Feierlich begannen sie mit mannshohen Schwertern aufeinander einzuschlagen. Der Große bedrängte bereits den Schwächeren, doch dieser hielt stand und schwang sein Schwert, bis ihm die Hand mit dem halben Unterarm abgehauen wurde. Das Schwert fiel hin, der Stumpf blutete und sah schlecht aus. Ich fühlte mit dem Geschlagenen und wußte, daß er nicht weichen würde.
Da warf auch der Sieger sein Schwert zur Seite. Umständlich, ja fast mit Wichtigtuerei stapfte er auf den anderen zu, umfaßte ihn und begann einen förmlichen Ringkampf. Er drängte ihn auf ein tiefes klares Wasserloch zu. Er hob ihn hoch und stieß ihn hinein, bis er untergetaucht war. Einige Blasen kamen aus seinem ruhigen, kranken, aufwärts gewandten Gesicht. Der andere hatte inzwischen wieder sein Schwert aufgenommen und stieß es dem Ertrinkenden gewissenhaft zwischen Kehle und Schulter durch den ganzen Körper hinab. Wenn ich auch der Kurverwaltung meine Anerkennung für ihren Einfallsreichtum nicht vorenthalten konnte, so muß ich doch der Wahrheit halber erklären, daß das Schauspiel wieder die Erinnerung an eine Abreise in mein Bewußtsein brachte. Nicht gleich, aber irgendwann.
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(7)
vom 3.10.70
Durch trockenes Unterholz und Fliederstämme erreichte ich nachts das große Schwimmbecken. Es war fast 50 m lang, schön gekachelt und sehr tief. Auf Kieswegen standen niedrige Gartenlampen, die die Einfassung mit einer Reihe von Lichtflecken diffus und angenehm beleuchteten. Einmal war ich so lange in dem kühler werdenden Wasser umhergeschwommen und getaucht, bis ich glaubte, allein zu sein. Doch als ich tropfend am Beckenrand stand, stieg nicht weit von mir ein Dunkelhäutiger heraus, der sich an die stählernen Leitergriffe lehnte und reglos aufs Wasser zurückblickte.
Etwas später sah ich von der Anhöhe auf das Bad hinunter. Der Abhang war steil und trotzdem war das dichte Grün dieser Seite so sauber gepflegt, wie in einem Schloßgarten. Ich begrüßte das Paar, gute Freunde übrigens, als er zu mir sagte: "Du, Deine Frau sitzt da drin." "Wie...?" fragte ich. "Ja, wirklich, wir haben sie beide erkannt - sie hat uns nicht mal gesehen." Ich ging sofort hinüber in das Restaurant.
Der Raum hatte eine niedrige, teure Holzdecke und viele Eichentische, die teilweise in warm beleuchteten Nischen standen. Neben der Bar ging es zwei Stufen hinab und an einer weiteren Tischreihe entlang zum Ausgang. Und an dem letzten dieser Tische, schon nahe dem Windfang, erblickte ich sie. Neben ihr saß ein Schwarzer und hielt ihre Hand. Der Boden senkte sich unter mir, so daß ich aufwärts mußte, um ihnen näher zu kommen. Alles in meiner Nähe kam ins Gleiten.
Wie im Traum ließ sie sich von mir emporziehen. "Was soll das denn werden?" fragte ich laut, ergriff die Hand des Andern, die ihr zögernd gefolgt war und versuchte, böse geworden, sie auf seine Schulter zurückzubiegen. Doch auf halbem Wege wurden sein Widerstand unüberwindlich, so daß ich ihn wieder losließ. "Ich möchte das nicht noch einmal sehen!" sagte ich scharf und deutlich, "...sonst nehme ich mir so ihren Schädel vor." Kaum hörte ich, wie sie halblaut sagte: "Wir müssen darüber reden." Ohne ihn zu berühren, ließ ich meine Faust mehrmals dicht bis an seinen Kopf niederzucken. Er blickte unbeweglich auf die Tischplatte. Hochgebirgshimmel und Felsen, Schreie aus Stein, wie die Indianer sagen, waren um uns hinter den großen Fensterscheiben. "Komm," sagte ich zu ihr, die nur noch folgte, um sich zu trennen. Ich spürte wie unter meinen Füßen die Wächte abging.
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(8)
Ich ging durch einen Menschenstrom langsam darauf zu und sah und hörte das laute Hafengetriebe. Aber was eben noch ein Becken war, hatte sich jetzt zum Meer geöffnet. Das Land wandelte und entfaltete sich mächtig. Aus den rostigen Frachtern waren dicke majestätische Segler geworden, die sich stolz in blaue Winde drehten. Schneeweiße Wolkenbänke wetteiferten mit ihrem Licht. Wolkenweiß quoll aus den Kanonenschlünden, die die Schlacht eröffneten und aus den Hyperboloiden der Kühltürme. In der unerträglich werdenden Helligkeit glaubte ich zu erkennen, wie die beiden mir Arm in Arm entgegenkamen. vom 25.10.70 (30.01.89) (01.01.05)
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(9)
Es gelang mir, mich aufzurichten. Mühsam erhob ich mich in die Luft. Mit schwerem Flügelschlag gelangte ich aufwärts durch den tropfenden Wald. Ich arbeitete mich bereits zwischen lichter gewordenen glatten Stämmen hindurch und konnte hoffen, bald den Kamm zu überqueren. Dahinter, hieß es, öffneten sich die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit; im Gleitflug überquerte man die Täler, den dunklen Strom, die helle Autobahn, die Zinnen und Bürotürme von Straßburg.
Aber da stand sie klein und schwarz auf einem Waldweg und sagte halblaut: "Warte...wir wollten doch noch...hast Du vergessen...?"
Sie hatte recht. Ich mußte umkehren. Auf dem Rückweg kam mir ein daumengroßes, dunkles, krankes Fluginsekt entgegen, das möglicherweise noch giftig war. Das schnarrende Flügelgeräusch verriet jedenfalls einen Defekt und verursachte mir leichten Ekel. Ich passierte es vorsichtig und setzte meinen Abweg fort durch das niedriger und trockener werdende Grün. Als wir wieder auf der staubigen Kanalstraße standen, raschelte es in hartem und leblosem Braungelb um unsere Füße. "Hier ist es," sagte sie.
"Hier ist es," wiederholte sie. Ein weiteres Insekt kam im Sinkflug auf uns zu. Aus der Trägheit, mit der sie ihm wich, schloß ich, daß ihr die Erscheinung nicht unbekannt war. Zwei krochen am Fensterblech aufeinander zu. Ein anderes, das fünfte inzwischen, zog auf dem Abtritt eine feuchte Spur durch den Kalkstaub. "Du mußt die Schuhe abputzen," setzte sie hinzu.
Wir verzogen uns nach links, wo hinter zerfressenen Spundwänden das braune Wasser stand. Dort war vor Jahrzehnten der letzte Zementkahn entladen worden. Eine der schwarzen Wespen ertrank mit langsamen Flügelbewegungen, während konzentrische Kreise von ihr ausgingen. Weihnachten ließ uns nicht los. Trotz der falschen Jahreszeit waren für unsere Rückkehr hinter den schmutzigen Scheiben die Bäume illuminiert worden. Die blaßgelben Kerzenflammen spiegelten sich in roten Kugeln und brachten das Lametta zum Schimmern. Nur die Nadeln fehlten. Wegen der Insekten und besonders wegen jener Wespe hatte sich seit der letztjährigen Weihnachtszeit niemand herausgetraut und niemand die Fenster geputzt. So wurde immer düsterer gefeiert.
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(10)
vom 28.10.70 und 1.2.89
Im vierten oder fünften Stock eines pompösen Mietshauses saß ich nächtens mit ausgestreckten Beinen auf der Balkonschwelle. Im schwarzen Zimmer, also links von mir feierte ein Dutzend Heimatloser eine schweigsame Hochzeit. Nur beim Brautpaar stand eine Kerze, die an den überlebensgroßen Schatten der Reglosen sog.
Nach rechts unten sah ich durchs geschmiedete Balkongitter auf die Kronen gewaltiger Linden. Die Bäume standen auf dem Bismarck- oder Engelsplatz von Wittenberge, einem kleinbepflasterten Geviert von 50 x 70 Metern. Es war nur von diesen altvornehmen Mietshäusern umgeben und diente an zwei Wochentagen als Markt. Außer der seltsamen Erscheinung, die ich gleich beschreiben werde, war durch das Blattwerk noch ein düsteres Pissoir in Neogotik und Gußeisen zu erkennen.
Zunächst aber trat der Bräutigam auf den Balkon heraus, indem er über meine Beine stieg. Er stellte sich breitbeinig ans Geländer, packte es mit den Fäusten und lehnte sich mit dem Unterbauch dagegen, daß es knirschte. Zur näheren Kennzeichnung seines Zustendes darf ich an dieser Stelle aus der Fachliteratur zitieren: "Ein Stöhnen entrang sich seiner Brust."
Normalerweise hätte sein Anblick in mir keinerlei Emotionen, geschweige denn Eifersucht gelöst. Aber dies war keine normale Nacht. Unten erschien nämlich an einem letzten seltsamen Gemüsestand die Braut, nun in Schwarz. Sie gab dem Inhaber Zeichen und ließ sich einige von seinen blauschimmernden Früchten zeigen. Beide taten, als wechselten Sie Geld, deuteten das Packen von Ware an und stellten somnambul einen Abschied dar. Ich glaubte ein Zittern der Balkonbrüstung zu spüren. Denn immer, wenn das Gebärdenspiel unten zu Ende schien, begann es auf zähe traumhafte Weise von vorn.
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(11)
vom 1.2.89
Kaum sichtbar zauberte das Glas durch schwache Gleisnerei in dieses Bild den Winkel eines Türspalts, rotblinkende Signale und lautlos den Lauf von Zackenkurven. Während also diese Reflexe durch eine Spur von Milchigkeit - meergrün auf topas - gerade die Kontrastgrenze erreichten und so der uralten, nie alternden Januarnacht einen Schimmer von Weihe und Neujahr erhielten, hoben sich durchaus nicht schwach, sondern schwarz und mager die Silhouetten eines Infusionsgestells und zweier Instrumententischchen vom Horizont der schlafenden Oststadt ab.
Im Zurücksinken verloren allerdings die Koordinaten von Zeit und Raum wieder ihre Bestimmtheit. Das Grün begann langsam zu fließen und lange Gräser zogen und wallten. Erst trieb ich an den steilen mannshohen Grasufern der Chèr mit ihren vereinzelten Felsbuckeln entlang, dann waren Menschenmengen an den gelben Stadtmauern und in nassen Holzbooten mit mir.
Die bunten Kleider, überwiegend im leuchtendem Rot, täuschten mich anfangs über die Tatsache, daß ihre Träger Gesichter aus Porzellan hatten. Unablässig stieg die Flut, beschleunigte die Boote und ergriff die Menschen an den Ufern. Ihr schreiendes Gelächter verlor den Ton und ging lautlos weiter, als wir in kalte Nebel fuhren. Obwohl es außer einem leisen Zittern der Lüfte keinen Hinweis darauf gab, daß wir in irgendwelchen grollenden Mahlströmen enden würden, waren die Puppen, die mich in den schweren, klaren Fluten umkreisten, keines Wortes mehr mächtig.
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Bruchstücke
Mit wenigen kurzen Schritten gelangte man über einen Backsteinbogen auf die kleine Plattform eines Strebetürmchens. Es hatte gerade den Durchmesser von Café-Tischen; seine orangefarbenen Ziegel waren noch gut gefugt aber weich gerundet durch die lange Nutzung. Das freundliche Sonnenlicht hatte sie gewärmt und die leichte Luft warf ab und zu einen Wirbel aus Ziegelstaub auf. So gesehen war es hier einladend wie unter der Linde eines verschlafenen Dorfplätzchens, zumal Blumengärten bis an die Hänge sich hinzogen. Angst und leichter Schwindel stellten sich erst ein, wenn man die vierzig Meter hinabsah auf die gelben Kieswege mit den Bänken, über die sich Forsythien wölbten. Denn das Strebetürmchen stand auf einer Säule, diese auf einem Pfeiler und dieser auf einem Rundturm über St. Aignon. Die Plattform aber hatte kein Geländer. Und die Schrift erfüllte sich in der Weise, daß ein langer Schrecken an mir sog, als ich bemerkt hatte, wie unser Söhnchen sich, ohne meinen Rücken zu berühren, an mir vorbeigedrängt hatte. Die leiseste Bewegung hätte genügt....
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Jahrhunderte waren vergangen vom letzten Augenaufschlag an gezählt bis fast zur Gegenwart. Jupiter stand an der gleichen Stelle. Und wieder dieselbe Zeit brauchte es, damit er sich dem oberen Rahmen der riesigen Scheibe ein wenig nähern konnte. Mit einigen der größten Fixsterne bildete der sanfte schöne Nachthimmel die Wand meines kosmischen Aquariums. Sein hohes blaugrün ging zum Horizont in ein durchscheinendes Braun über, das vom Netz der Baumkronen fein und scharf gebrochen wurde. Hinter ihnen gilbten ferne Lichter, still darauf wartend, daß die tiefe Nacht die Tiefste lösen würde.